Sprachschatz

Kurze essayistische Arbeit

Autor:
Ulrike Draesner
 

Kurze essayistische Arbeit

Schräge Vögel speien Pumpguns

März 2012

Es ist eine Binsenwahrheit, dass man Eigenes im Spiegel von Fremdem überhaupt erst oder zumindest schärfer wahrnimmt, und diese Binse gilt auch für die Sprache. Sprache ist vielleicht sogar in besonders hohem Maß von ihr betroffen, weil wir alle täglich mit ihr umgehen. Eben diese Selbstverständlichkeit ist es, die dem Dichter hilft und manchmal im Weg steht, die ihn verlockt und blind macht. Die Sprachbahnen im Gehirn werden früh verschaltet,
die Neuronenwege sind fest, und das Gehirn ist bekanntlich faul wo und sooft es kann. Zu Gewohnheiten und Blindheiten gehört, was man „tote“ oder erstarrte Metaphern nennt, etwas wie „am Fuß des Berges“, aber auch idiomatische Wendungen wie „das Herz über die Hürde werfen“ oder „ich habe einen Bärenhunger“. Die Ausdrücke sind so selbstverständlich, dass der zugrundeliegende Vergleich gar nicht mehr ins Bewusstsein tritt: Der Berg als Menschenkörper, das Herz als Pferd, der Bär im Magen. Nun liegt „auf der Hand“ (im Deutschen), dass Idiome, in einer Sprache kanonisierte Metaphern, Redeweisen und Sprichwörter den Blick sowie die Eigen- wie Fremdwahrnehmung der Sprachbenutzer färben, lenken oder gar bestimmen – sie bauen eine Welt auf, die anders aussieht und ‚tickt‘ als jene des Sprachnachbarn. Man sollte indes nicht nur auf die langen Bildketten achten; auch kürzere Fügungen wie deutsche Substantivzusammensetzungen leisten hier massive Beiträge. „Sprachschatz“ gehört zu diesen Worten. Die englische Übersetzung spuckt ein dürres „vocabulary“ aus, was natürlich etwas ganz anderes ist als ein Sprachschatz, sowohl in der Beschenkung, die das Wort vornimmt, in dem Versprechen, das es gibt, als auch inhaltlich: der Wortschatz ist mit dem Sprachschatz keineswegs identisch, er ist eine Teilmenge davon.

Als Kind wollte ich niemals Dichterin werden, ich hätte gar nicht gewusst, was das ist, und hasste die Gelegenheiten, zu denen ich von meiner Mutter mit Hilfe von Reimbüchern verfasste Gedichtgebilde aufsagen musste, so sehr, dass ich anfing, die Reime auszulassen, was bald dazu führte, das ich beim Aufsagen ausgelassen wurde. Damit hatte ich dieses Kapitel meines Lebens erfolgreich geschlossen. Was mich allerdings interessierte, und mehr als das: was ich als Versprechen empfand, war all das, was Worte behaupteten, mochte es inhaltlich oder „nur“ lautlich sein: die Schallmauer wollte ich sehen, Flugzeug und Feuerzeug haben sich bis heute in meinem Kopf nicht wirklich voneinander getrennt, Pfarrer gehören auf Fahrräder, und auch einen Mistkerl stelle ich mir bis heute stets sehr konkret vor. Wie den Sprachschatz!

Dass Dichtung ein oder das Mittel ist, ihn zu heben, leuchtet rasch ein. Schließlich ist sie die sprachfixierteste, sprachbetonteste, sprachverrückteste der literarischen Gattungen – oder steht zumindest in dem Ruf, dies zu sein. Doch warum, kann man zu Recht fragen, sollte einen das interessieren. Vielleicht ist das Wort „Sprachschatz“ nichts als eine große Flunkerblase, ein irreführendes Versprechen, Bildungshuberei, dem Untergang geweiht – und die gesamte Dichtkunst gleich mit.

Anlässlich einer Übersetzung stieß ich vor kurzem darauf, es war am Telefon, dass “sich verstecken“ im Niederländischen „sich verstoppen“ heißt. Die oben erwähnte Binse kam zum Zuge, und das Gespräch entwickelte sich zu einem Nachdenken über das Stoppen in Verstecken. Wenn ich etwas von mir oder mich verstecke, stoppe ich es – aber nur zu einem Teil – stecke es hinter eine Wand, mache es unsichtbar, doch etwas (was?) könnte sich weiterbewegen. Ein Wortfeld (Stück Schatz) öffnete sich: wie man sich an einem Versteck ein- oder anhält (gegen einen Sturz?), daran klebt (Schwierigkeiten hat, es zu verlassen), welche Bewegungen des Ent-Stoppens, der Verflüssigung und/oder Beschleunigung man schließlich braucht, um hervorzukommen, wie die  Bewegungen miteinander verbunden sind oder in verschiedenen Strömungsgeschwindigkeiten aufeinander sitzen. Anhalt und Anhaltspunkt führten zu Bindung, Billigung und Blendung, die beim Verstecken auf andere zielen, gern aber auch zurückschlagen auf den, der sich ver“stoppt“.

Besonders nützlich: es handelt sich hierbei nicht um subjektive Assoziationen, sondern um Sprachbahnen, gespeichert im „objektiven“, also geteilten Sprachmaterial des Deutschen. Exakt dieser Zusammenhang – sprachlicher Spiel-, Denk- und Fühlraum für den einzelnen, dessen Koordinaten gegeben sind – ist in dem Wort „Sprachschatz“ aufgehoben. Wie man mit Sprache auf Welt zeigt → durchgreift, wie Sprache selbst Zusammenhänge suggeriert oder in ihren Verbindungen/Verwandtschaften Wissen über psychische und kognitive Prozesse enthält sowie von deren Neigung berichtet, sich ineinander zu verkehren. Die Verwandtschaft von Spiegel, speien und Spiel wäre ein anderer dieser Fälle, verbunden mit peilen und geil, liegen und lieb. Fast schon ein Lebenslauf! Die Wortbahnen treffen Phänomene, Erscheinungen. Kein Faktum ohne Kleidung, kein Faktum ohne seine Portion Erfindung, die auch in seiner sprachlichen Gestalt liegt.  

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