Pornography

Musik

Autor:
The Cure
Besprechung:
Stefan Heuer
 

Musik

Give me your eyes that I might see – zum 30sten Jahrestag eines großen Albums

30.04.2012 | Hamburg

Ähnlich wie Frauenzeitschriften ihre Stylingtipps, das Schuh-Special und den großen Passt-er-wirklich-zu-dir?-Liebestest, haben auch Musikzeitschriften eine mit schöner Regelmäßigkeit erscheinende Rubrik: Die "Platte der Woche" (respektive: des Monats, des Jahres) - eine Momentaufnahme, ein temporärer Akt der Subjektivität, bei dem sich entweder eine sogenannte Fachjury austoben darf oder ein Poll eine Solidarität innerhalb
der Leserschaft simulieren soll. Ich für meinen Teil darf sagen, dass die in derartigen Listen auftauchenden Platten so gut wie nie meinen Geschmack getroffen haben.

Rückblende: Juli 1984, ich lag am Strand von Hörnum und hörte Walkman. Es war warm, meinem Empfinden nach heiß, und ich war verliebt. Das Mädchen, dem ich dieses bis heute andauernde Gefühl zu verdanken hatte, hieß Nicole und war bis zum gerade beendeten Schuljahr in meiner Klasse gewesen. In der letzten Schulwoche vor den großen Ferien hatte sie beschlossen, einen Stapel Platten ihres Bruders mit in die Schule zu bringen und zu Geld zu machen. Einige davon hatte ich zum Probehören mit nach Hause genommen – seitdem ist mein Leben ein anderes.


It doesn’t matter if we all die
Ambition in the back of a black car
In a high building there is so much to do
Going home time, a story on the radio
Something small falls out of your mouth and we laugh


Als ich diese Zeilen das erste Mal hörte, war ich 13. Meine Englischkenntnisse waren mittelmäßig, aber sie reichten aus um zu verstehen, dass der Verfasser etwas zu sagen hatte, mir etwas zu sagen hatte. Es war die erste Platte, die ich von The Cure hatte und hörte (und mir für den Urlaub auf Kassette gezogen hatte), und versehen war sie mit einem Titel der geeignet war, meine Eltern am Erfolg ihrer Erziehungsbemühungen zweifeln zu lassen, einem Titel, der sie ob meines noch jungen Alters zumindest aufhorchen und nachdenklich werden ließ: Pornography. Meine Eltern waren dem Musikgeschmack ihrer Kinder gegenüber aufgeschlossen, meine um fünf Jahre ältere Schwester hatte gute Vorarbeit geleistet und sie auf diesem Gebiet bereits mit der auf voller Lautstärke durch die Wohnung dröhnenden Nina Hagen-Platte "Unbehagen" sozialisiert – dennoch kann ich es ihnen nicht verdenken, dass sie sich ob meiner neu gewonnenen Obsession für derartige Texte und der dazugehörigen, mit schlampig aufgetragenem Lippenstift und Kajal versehenen Band ihre Gedanken machten (zumal Robert Smith damals noch öffentlich damit kokettierte, immer einen Strick bei sich zu tragen, um seiner Existenz bei Bedarf jederzeit ein Ende bereiten zu können). Erfreulicherweise vertrauten sie jedoch schlussendlich schon damals auf meinen gesunden Menschenverstand.

It doesn’t matter if we all die


Wie rein und erhaben muss der Blick eines Songwriters sein, um ein Album mit diesen Worten zu eröffnen.

Schon das vorangegangene Album Faith aus dem Jahr 1981 war durch Todesfälle im Freundes- und Bekanntenkreis der Band ein sehr ernstes, instrumentell reduziertes Album geworden, auf dem Songs wie The Funeral Party oder The Drowning Man eine sakrale Stimmung heraufbeschworen. Bei Pornography, im Januar und Februar im Londoner RAK Studio one aufgenommen und am 03. Mai 1982 bei Fiction Records veröffentlicht, sollte das nicht anders sein. Wie sein Vorgänger, wurde auch Pornography in der Presse beinahe einheitlich mit dem Attribut "depressiv" versehen – meist wurde zur Untermauerung dieser These die erste Zeile des Openers One Hundred Years zitiert:

It doesn’t matter if we all die


Was damals nur wenige Kritiker bemerkt, zumindest nicht erwähnt haben, war die enorme Entwicklung, die Robert Smith und die damaligen Bandmitglieder Simon Gallup und Laurence Tollhurst durchgemacht hatten. Innerhalb nur eines Jahres hatten sie die auf Faith vorherrschende Elegie in pure Energie gewandelt, in eine homogene, aus acht Stücken bestehende gewalttätige Abfolge einer aus Zweifel und Endlichkeitsbewusstsein gespeisten Aggression, deren Konsequenz sich auch in der Ballung bestimmter Kernwörter spiegelte. Kaum ein Song dieser Phase, der ohne face, black oder fall auskommt. Viele Journalisten haben diese vermeintlich freiwillige Reduktion der Sprache bemängelt und sie als Einfallslosigkeit gegeißelt. Aber: Wie viel Zeit mag sich der durchschnittliche Musikjournalist für eine Platte nehmen, bevor er etwas über sie schreibt? Mit jedem Hören wird deutlicher, dass Smith diese Texte eben genau so schreiben musste, dass es ihm nur durch die Wiederholung der für ihn schlüssigen Wörter möglich war, die Texte und damit die Songs authentisch zu halten. Wenn es sich auch im dritten oder vierten oder fünften Song um etwas Schwarzes handelt – was dann anderes schreiben als black? Und auch die durchgängige Klangfarbe, der einheitliche Sound dieser Platte, der von einigen "Fachleuten" fälschlicherweise mit dem Begriff der Monotonie belegt bzw. mit ihr verwechselt wurde, spiegelt einzig und allein das hinter dem Album stehende System wider, wie Smith in einem Interview mit dem Record Mirror erläuterte: »I’ve always tried to make records that are of one piece, that explain a certain kind of atmosphere to the fullest. If you are gonna fully explore something, you need more than one song to do it. … I like a lot of music that is built around repetitions – Benedictine chants particularly, and Indian mantras. These musics are built around slow changes, they allow you to draw things out

Movement
No movement
Just a falling bird
Cold as it hits the bleeding ground


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