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Musik
Give me your eyes that I might see – zum 30sten Jahrestag eines großen Albums
Die Songs auf Pornography sind nicht kühl, sie sind kalt, bestehen aus Scheppern, aus Übersteuerungen und rückwärtslaufenden Bandmaschinen, unterlegt von einem in den Magen schlagenden Rhythmus. Die acht Songs haben Titel, die einer Rede am offenen Grab entnommen zu sein scheinen: One Hundred Years – A Short Term Effect – The Hanging Garden – Siamese Twins – The Figurehead – A Strange Day – Cold – Pornography. Dazu ein Gesang, der sich keinerlei Mühe gibt, den in ihm steckenden Weltschmerz zu verbergen. Erst bei mehrmaligem Hören und entsprechender Lautstärke tritt eine von Liebe umspielte Zärtlichkeit zutage, und mit ihr die Hoffnung, die aus der Ausweglosigkeit des menschlichen Vergehens resultierende Erkenntnis, das eigene Leben nur bis zu einem bestimmten Grad selbst bestimmen zu können. Nur wenige Kritiker erkannten das, unter ihnen der britische Musikjournalist Dave Hill, der kurz nach der Veröffentlichung von Pornography bekannte: »However, I feel that Pornography was not designed to be objectified or probed, but taken en bloc as a very dense wash of emotional colour, portraying one soul on a leash, fighting back the panic in the dark – and, as such, it really works!«
Liebe, Freiheit – und Hoffnung! Aber auch: Vergänglichkeit, erste Abschiede für immer, unerwiderte Liebe, die Frage nach dem Sinn: Wie gesagt, war ich 13 Jahre alt, als ich dieses Album in mein Leben ließ – ein sehr empfängliches Alter für Weltschmerz und Zweifel aller Art, die große Zeit der unbeantworteten Fragen. Hätte ich dieses Album damals als depressiv empfunden, als negativ, so hätte es mich mit großer Wahrscheinlichkeit verstört. Aber ich lauschte – und ich verstand: Smith sang über die menschliche Existenz. Er sang nicht nur über sich, sondern auch über mich. Und er sang über Träume.
Give me your eyes that I might see
The blind man kissing my hands
The sun is humming
My head turns to dust as he plays on his knees
And the sand and the sea grows
I close my eyes
Move slowly through drowning waves
Going away on a strange day
- und das zu einer Zeit, als ich Nacht für Nacht den gleichen Traum hatte – eine Eselherde, die mich in südländischer Hitze eine Serpentinstraße hinauftrieb, bis es nicht mehr weiterging und ich schweißgebadet aufwachte.
Es mag arg pathetisch klingen, aber der Wahrheit die Ehre: Pornography gab mir Hoffnung. Hoffnung, dass es weitergehen würde, wenn ich auch noch nicht wusste wie. Hoffnung auch deshalb, weil es mich wissen ließ, dass ich mit meinen Zweifeln, Süchten, Ängsten und Träumen nicht alleine war. Hoffnung auch deshalb, weil selbst der Verfasser dieser Texte die Hoffnung noch nicht aufgegeben hatte und die Platte mit
I must fight this sickness
Find a cure…
enden ließ, statt vom mitgeführten Strick Gebrauch zu machen...
Am 03. Mai 2012 jährt sich die Veröffentlichung von Pornography zum 30sten Male. Mein Walkman von damals ist lange schon kaputt und entsorgt, aber diesem Album hat die Zeit nichts anhaben können, es hat nichts von seiner Aktualität verloren – wie könnte es auch, war es doch bereits bei Erscheinen weit entfernt von jedweder Aktualität oder dem vorherrschenden und sich in den Charts widerspiegelnden Massengeschmack (die vorderen Plätze der deutschen Hitparade im Mai 1982: Nicole mit Ein bisschen Frieden, Trio mit Da Da Da, Hubert Kah mit seiner Rosemarie).
Im Freudentaumel des gewonnenen Grand Prix Eurovision de la Chanson und der in höchsten Wogen schwappenden NDW war an eine Chartplatzierung für Pornography in Deutschland nicht zu denken (anders in England, wo das Album bis auf Platz 8 der Charts kletterte). Der Hype, der die Band mit späteren Radio-Singles wie Lullaby oder Friday I’m In Love erreichte, war nicht einmal ansatzweise zu erahnen. Konzerte fanden noch in recht intimen Hallen wie der Herforder Scala statt.
Größer ist alles geworden, wie es mit steigendem Bekanntheitsgrad einer Band eben ist. Die Abstände zwischen den Alben werden immer größer, die Zeiträume zwischen den Tourneen sowieso. Größer also, aber besser? So subjektiv wie die anfangs erwähnte "Platte des Monats" möchte ich sagen: An die Qualität und Homogenität des Songwritings von Pornography ist Smith nie wieder herangekommen. Deshalb zu behaupten, The Cure hätten ihre Karriere 1982, nach der Veröffentlichung von Pornography, beenden und die Instrumente an den sprichwörtlichen Nagel hängen sollen, ist dann aber doch ebenso ketzerisch wie falsch. Zwar können die seitdem veröffentlichten Studioalben der Band der Komplexität, der vor Energie strotzenden Reduktion des Pornography-Albums nicht das Wasser reichen, dennoch hat Smith auch danach noch zahlreiche Songs geschrieben, die ihm zur Ehre gereichen. Die im Anschluss an Pornography eingelegte Phase mit kurz hintereinander veröffentlichten Singles, die 1983 als Patchwork-Album Japanese Whispers erschienen, bietet mit The Walk und Let’s Go To Bed Perlen der Popmusik. Die achtzehn Songs umfassende Doppel-LP Kiss Me Kiss Me Kiss Me präsentierte vier Jahre später eine ungeahnte stilistische Vielfalt zwischen eingängigen Singles auf der einen und scharfen Gitarrenstücken und orientalischen Sprengseln auf der anderen Seite. 1989 dann Disintegration, ein Album, welches Gitarrenteppiche epischen Ausmaßes in den Vordergrund knüpfte und noch heute, 25 Jahre nach seiner Veröffentlichung, zurecht die Playlist eines jeden Cure-Konzerts dominiert. 2000 mit Bloodflowers ein Album, das gänzlich auf Videos und Singles (und damit auf Radio-Airplay) verzichtete und neun längere Gitarrenschwermüter kredenzte.
»Hörst Du, Schatz? Sie spielen unser Lied!« Viele Paare haben ein Lied, ihr Lied, bei dem sie sich kennen gelernt haben; das Lied, das damals im Radio lief, als er ihr bei der Autopanne geholfen hat. Vielleicht lief es auch, als sie sich nach monatelangem Anschmachten in der Diskothek vor der Männertoilette in die Arme gesunken sind.
Ich habe kein Lied; ich habe ein ganzes Album. Und ich habe seinem Schöpfer zu danken. Und Nicole aus der 7c.
Liebe, Freiheit – und Hoffnung! Aber auch: Vergänglichkeit, erste Abschiede für immer, unerwiderte Liebe, die Frage nach dem Sinn: Wie gesagt, war ich 13 Jahre alt, als ich dieses Album in mein Leben ließ – ein sehr empfängliches Alter für Weltschmerz und Zweifel aller Art, die große Zeit der unbeantworteten Fragen. Hätte ich dieses Album damals als depressiv empfunden, als negativ, so hätte es mich mit großer Wahrscheinlichkeit verstört. Aber ich lauschte – und ich verstand: Smith sang über die menschliche Existenz. Er sang nicht nur über sich, sondern auch über mich. Und er sang über Träume.
Give me your eyes that I might see
The blind man kissing my hands
The sun is humming
My head turns to dust as he plays on his knees
And the sand and the sea grows
I close my eyes
Move slowly through drowning waves
Going away on a strange day
- und das zu einer Zeit, als ich Nacht für Nacht den gleichen Traum hatte – eine Eselherde, die mich in südländischer Hitze eine Serpentinstraße hinauftrieb, bis es nicht mehr weiterging und ich schweißgebadet aufwachte.
Es mag arg pathetisch klingen, aber der Wahrheit die Ehre: Pornography gab mir Hoffnung. Hoffnung, dass es weitergehen würde, wenn ich auch noch nicht wusste wie. Hoffnung auch deshalb, weil es mich wissen ließ, dass ich mit meinen Zweifeln, Süchten, Ängsten und Träumen nicht alleine war. Hoffnung auch deshalb, weil selbst der Verfasser dieser Texte die Hoffnung noch nicht aufgegeben hatte und die Platte mit
I must fight this sickness
Find a cure…
enden ließ, statt vom mitgeführten Strick Gebrauch zu machen...
Am 03. Mai 2012 jährt sich die Veröffentlichung von Pornography zum 30sten Male. Mein Walkman von damals ist lange schon kaputt und entsorgt, aber diesem Album hat die Zeit nichts anhaben können, es hat nichts von seiner Aktualität verloren – wie könnte es auch, war es doch bereits bei Erscheinen weit entfernt von jedweder Aktualität oder dem vorherrschenden und sich in den Charts widerspiegelnden Massengeschmack (die vorderen Plätze der deutschen Hitparade im Mai 1982: Nicole mit Ein bisschen Frieden, Trio mit Da Da Da, Hubert Kah mit seiner Rosemarie).
Im Freudentaumel des gewonnenen Grand Prix Eurovision de la Chanson und der in höchsten Wogen schwappenden NDW war an eine Chartplatzierung für Pornography in Deutschland nicht zu denken (anders in England, wo das Album bis auf Platz 8 der Charts kletterte). Der Hype, der die Band mit späteren Radio-Singles wie Lullaby oder Friday I’m In Love erreichte, war nicht einmal ansatzweise zu erahnen. Konzerte fanden noch in recht intimen Hallen wie der Herforder Scala statt.
Größer ist alles geworden, wie es mit steigendem Bekanntheitsgrad einer Band eben ist. Die Abstände zwischen den Alben werden immer größer, die Zeiträume zwischen den Tourneen sowieso. Größer also, aber besser? So subjektiv wie die anfangs erwähnte "Platte des Monats" möchte ich sagen: An die Qualität und Homogenität des Songwritings von Pornography ist Smith nie wieder herangekommen. Deshalb zu behaupten, The Cure hätten ihre Karriere 1982, nach der Veröffentlichung von Pornography, beenden und die Instrumente an den sprichwörtlichen Nagel hängen sollen, ist dann aber doch ebenso ketzerisch wie falsch. Zwar können die seitdem veröffentlichten Studioalben der Band der Komplexität, der vor Energie strotzenden Reduktion des Pornography-Albums nicht das Wasser reichen, dennoch hat Smith auch danach noch zahlreiche Songs geschrieben, die ihm zur Ehre gereichen. Die im Anschluss an Pornography eingelegte Phase mit kurz hintereinander veröffentlichten Singles, die 1983 als Patchwork-Album Japanese Whispers erschienen, bietet mit The Walk und Let’s Go To Bed Perlen der Popmusik. Die achtzehn Songs umfassende Doppel-LP Kiss Me Kiss Me Kiss Me präsentierte vier Jahre später eine ungeahnte stilistische Vielfalt zwischen eingängigen Singles auf der einen und scharfen Gitarrenstücken und orientalischen Sprengseln auf der anderen Seite. 1989 dann Disintegration, ein Album, welches Gitarrenteppiche epischen Ausmaßes in den Vordergrund knüpfte und noch heute, 25 Jahre nach seiner Veröffentlichung, zurecht die Playlist eines jeden Cure-Konzerts dominiert. 2000 mit Bloodflowers ein Album, das gänzlich auf Videos und Singles (und damit auf Radio-Airplay) verzichtete und neun längere Gitarrenschwermüter kredenzte.
»Hörst Du, Schatz? Sie spielen unser Lied!« Viele Paare haben ein Lied, ihr Lied, bei dem sie sich kennen gelernt haben; das Lied, das damals im Radio lief, als er ihr bei der Autopanne geholfen hat. Vielleicht lief es auch, als sie sich nach monatelangem Anschmachten in der Diskothek vor der Männertoilette in die Arme gesunken sind.
Ich habe kein Lied; ich habe ein ganzes Album. Und ich habe seinem Schöpfer zu danken. Und Nicole aus der 7c.