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Kurzprosa
Eine Sommergeschichte
Platanenallee rauscht im Wind, filigrane armlange Zweige am hohen Baum hinter Mauer, Schüler rasen auf winzigen Velos im Halbdunkel auf und ab, Lastwagen für Weinbedarf, Ernteschlepper voller blauer Trauben, Motorräder auf der Route Nationale durch St. Clermont l'Hérault. Wir biegen in eine Nebenstraße ein, kommen nach Meyruis im Tal, bleiben im letzten Hotel neben dem Flusslauf, später im Speisesaal sitzt ein Bauernpaar am Nebentisch, sie hat eine Zopfkrone über dem kleinen Gesicht, lächelt mich lieb an, er streckt weit von sich nackte muskulöse Bergsteigerbeine. Fremdartig das Paar zwischen den Reisenden, viele wollen nach Santiago de Compostela, auf diesem Hauptweg des Sankt Jakobs-Weges. Unruhige Nacht, erst gegen Morgen ist das Wasserrauschen von Fluss und Brunnen zu hören. Raus aus dem Haus vor Tau und Tag, beim Morgenspaziergang bin ich allein mit einem sonnengegerbten mageren Greis, Lederstiefel, härenes Gewand, Rupfenrucksack mit Lederriemen aus Großvaterzeiten, wie ein Wanderhirt aus biblischen Abbildungen. Bonjour. Frühaufsteher unter sich, laufen wir zügig eine Weile im Morgengrauen herum, betrachten die Berglinien und Wolkengebilde, sitzen, um die Sonne besser heraufrollen zu sehen, nebeneinander am Brunnenrand, da wendet er sich, hält seine Lederflasche unter den Wasserstrahl, reicht sie mir hin. Voulez-vous? Voulez-vous? Ich trinke. Das R rollt er mehr als jeder Franzose. Woher kommen Sie? Von dort. Er zeigt nach der Sonne über dem Gebirge. Deux mille kilomètres. Zweitausend Kilometer. Doch, zu Fuß. Seit dem Mittelalter seine Vorfahren, die Gläubigen, aus Vorderasien durch Europa nach Rom, nach Jerusalem und bis nach Santiago de Compostela gepilgert. Solche Muscheln wie die am meinem Pilgerstab wurden in die Mauern von Kirchen und Scheunen gemeißelt, man findet sie in der Einsamkeit an Brunnen und Brücken. - Stimmt, nicke ich, oft habe ich sie gesehen, an Marburgs Pilgerkapelle und am Weidenhäuser Hospiz, am Görlitzer Obermarkt, im Eichsfeld, an einem Wegstein im besonders öden polnischen Brachfeld. Immer wieder in verschiedenen französischen Provinzen, einmal haben wir einen Bettelnden mit der Muschelschale in Saint Gilles getroffen, gesprochen, südlich von Arles de Provence, als wir gerade den Lubéron-Film dort drehten, wir filmten „Reisewege zur Kunst“, er war auf dem Jakobsweg, 1985 war das. Der Pilger ist diesem hier ähnlich gewesen in Tracht und Eigenart. Sie mehren, versammeln sich, je näher wir dem Roussillon kommen, die gemeißelten Muscheln und die Pilger, dem Ziel nah. >Voyez<. Ein in zerknittertes graues Leinen eingeschlagenes Heft hält er mir hin, blättert an Stempeln mit der immer gleichen flachen Muschel vorbei, ich erkenne um dieses Emblem herum kyrillische, armenische, griechische Schriftzeichen, die vertraute römische Schrift in allen möglichen europäischen Sprachen. Und er? Woher? Er blättert nach vorn, tippt auf eine Seite und klappt das Heft schnell zu. > Et vous? Ici.< Ich nicke. Denn er hat auf den Stempel des Kloster Marienthal gefasst, mit einem rauhen rissigen Fingernagel. Ich stehe auf, gehe rund um den Brunnen herum, heran an den Zaun und pflücke zwei Pfirsiche vom Baum. Klauen. Lacht er. Du Diebin. Einen Pfirsich in seine, einen in meine Hand. >Au revoir. Bon voyage. Dieu avec vous. Gott säggne dich. Mein Kint. < Hell ist es, sonnig, viele kommen zum Déjeuner. Morgenstille, Comtemplatio vorbei. Wir Allemagnes steigen ins Auto, einzig unsere genaue Betrachtung der Landschaft wäre eines Pilgers würdig, am Stadtausgang winkt er wandernd vom Wegrand. Aus dem Ort, immer höher, kahl und weit, tiefer geht es, immer noch 1400 Meter hoch, immer waldigere Cévennen, Skigebiet. Laubwald und Esskastanien, lange bis Mittag. Le Vigan am schäumenden Fluss, tief unter alter grauer Felsbrücke mit eingemeißelter Muschel, beschädigt vom Alter. Straßendörfer zwischen zwei Feldwänden aus Stein, mittendurch der Bach, Einschnitte im Fels geben knappen Raum für Menschenbehausungen. Platanen-Alleen, immer wieder Plätze mit Soldatendenkmalern. Tiefer dann ins Hérault, Fluss voller Steinplatten und kopfgroßen Geröllen, Forellen, Kanufahrer. St. Guilhelm-le-Désert, auch hier ist Menschen-Gewimmel, aber wir wollen ja auch die Gegensätze des Schönen sehen, haben mit Filmen dazu aufgefordert; kommt und seht und hört und spürt, hier keine Einöde mehr, le Désert, nomen est omen nicht mehr. Dort wie damals still ist die dunkle Kirchenhalle, die halbrunde Apsis hinter dem Klostergarten liegt im Licht, wir suchen und sehen das Relief der Jakobsmuschel am Mauerbrunnen, dessen Quellwasser seit Jahrhunderten die Pilger von Durst befreit. Flusstal weitet sich zur Ebene, in den Weinfeldern streifen die Weinbauern die Rebstockreihen entlang.
© Mechthild Curtius// Foto: Olaf Hauke