Mouse intelligence

Kurze essayistische Arbeit

Autor:
Ulrike Draesner
 

Kurze essayistische Arbeit

Eine ganze Welt voller Mäusesongs

Juli 2012 | Hamburg

Vor gut zwei Wochen stand ich in der Schouwburg von Rotterdam, es war sonnig und eisig, und auf der Straße reihten sich Betonflächen und Schuhgeschäfte endlos aneinander. Ich wartete altbeschuht im Theaterfoyer, rührte in einem Kaffee und hörte, während aus allen Räumen Poesie schallte und von den Wänden Dichter sprachen, wie ein belgischer Autor, der in Japan lebt, einem niederländischen Autor, der in Belgien lebt, bestätigte, er habe eine mouse-intelligence. Keiner der beiden sieht einer Maus auch nur im Entferntesten ähnlich, beide lachten.

Im Hotel, als es stiller wurde, weil Deutschland gegen die Niederlande spielte und die orange dekorierten Schuhläden, die orangefarbene Schuhe verkauften, geschlossen hatten, dachte ich über die Mäuseintelligenz der Dichter nach. Von der Intelligenz von Ratten hat man immer schon gehört, Ratten und Labyrinthe, Ratten und fressen, Ratten und finden. Aber Mäuse?

Mäuse sind berühmt für ihre Art und Weise sich zu bewegen. Da ist die Maus – und fort. Man sieht sie nicht. Da - ohne Weg, oder mit einem Sprung. Sind Ratten Meister des Findens, müssen Mäuse als Künstler des Suchens gelten. Mausintelligenz ist eine Klugheit der Sprünge und Unebenheiten, eine Klugheit des präzis Schiefen, des präzis Danebengesetzten.

Ich weiß nicht, was die niederländischen Kollegen gemeint hatten, mir aber leuchtete in Bezug auf die Poesie dieser Aspekt des Mäusischen ein. Dichtung als jene literarische Gattung, die von „Dingen“ spricht, die da und fort sind, sichtbar-nicht-gesehen. Seit hundert Jahren gewiss, tatsächlich aber viel länger schon, und vielleicht wirklich von Anfang an – wo immer man die vielen Anfänge der Poesie auch suchen mag – sind Schönheit und ihre Verletzung, Zielen und Verfehlen, Meinen (einst „minne“ genannt) und Nicht-halten-können (nicht begreifen) wesentliche Kategorien der Poesie. Präzis schiefe, präzis – mit Lücke und Sprung, nicht-vollständig, sondern vielleicht auch kugelnd, gerollt, mit Arabeske und Abweg – hier und da und nirgends gefasst.

Der nächste Abend in Rotterdam brachte ein Gespräch über Becketts letztes Gedicht, comment dire. Er hat es selbst ins Englische übersetzt, es trägt den Titel what is a word und ist eine Zeile länger als die französische Version. Die Handschriften zeigen einen interessanten Entstehungsweg. Das Gedicht nimmt seinen Anfang in Becketts Prosa; aus einem Wort hängt es in die Welt der Gedichte: „ceci“. Beckett arbeitet diesen Anfang durch Streichungen heraus. Kaum setzt er an, spaltet das Gedicht sich auf, er schreibt Varianten des Textes links und rechts auf die Manuskriptseite, der Text geht zwei Wege statt einen, bewegt sich „mäusisch“ – gespalten, unfertig – und kommt so voran. Comment dire ist ein modulares Gedicht, das Worte in grammatischer Offenheit aneinander kettet und dabei in Frage stellt, was sie ausdrücken, wobei dieses „Ausgedrückte“ als Tätigkeit in der Vorstellung des Lesers stattfindet und zugleich durchgestrichen wird. Der Text baut sich auf, Welle und Kette, baut sich wieder ab, schaut mir Worten um Ecken, evoziert einen „Blickenden“, der im Wortgebäude umhergeht. Wenn man weiß, dass Beckett dieses Gedicht bewusst als letztes Gedicht schrieb und an seinen Anfang folie setzte und folly, die im Deutschen vielleicht Wahnwitz sein möchten, als Wahn+Witz, spürt die Spannung zwischen der Vergänglichkeit des warmen Körperlebens und der Mathematik der Grammatik, die in unsere weichen Gehirne herüberkrakt – und von ihnen abhängt. Die Spannung zwischen Worten als Bausteinen und Sprache, die über den Einzelnen hinausreicht. Wenn auch auf unsicherem Grund, über den der Dichter sich tastend/springend bewegt, bevor er in einem dunklen Loch verschwindet.

Mäuse fressen alles, fallen in Erstarrungszustände, wenn es zu kalt wird, laufen auf Straßen, die nur sie kennen (duftmarkiert). Vor allem aber singen sie. Kafkas berühmte Josefine ist nicht nur Erfindung: Hausmäuse verständigen sich durch Ultraschallieder. Sie sollen in Melodienreichtum und Vielfalt den Gesängen von Singvögeln gleichkommen. Eine ganze Welt voller Mäusesongs, nur wir vernehmen sie nicht!

Manchem mag das als zutreffende Charakterisierung für den Zustand der Poesie erscheinen. Finder und Berater sind gefragt; der Intelligenz des Suchens jedoch hat sich ein Stück Unsichtbarkeit angeheftet. Es schützt sie und macht sie angreifbar zugleich. Das Rotterdamer Poesiefestival wird inzwischen in der spanischsprachigen Welt el estetico genannt. Heißt: was (nur noch) ästhetisch ist, hat keine Relevanz mehr? Die Frage wird immer öfter auch von Dichtern an Dichter (gern in Blogs) gestellt. Ich halte das für das Gegenteil einer intelligenten Entwicklung. Welche Art von Rechtfertigungsdruck oder –Bedürfnis artikuliert sich hier? Vorauseilend beugt man sich unter die Regeln der Nützlichkeit, die unsere westlichen Gesellschaften/Märkte zunehmend exklusiv zu bestimmen scheinen.

El estetico ist kein Schimpfwort. Man starrt darauf, weil die Spanier es sagen - mit Festivals in Südamerika, die Tausende von Besuchern anziehen. Das ist gut. Muss aber nicht das Ziel sein. Manchmal scheint unser Glaube an Mengen und Zahlen inzwischen so stark, dass wir ihn gar nicht mehr bemerken. El estetico bedeutet: etwas Schönes. Relevanz: unmessbar. Die Bewegung: nicht erklärbar. Die politische Bedeutung: erst herzustellen. Und bedeutet: manchmal wird man und will man nicht mehr als eine Maus sein. Die aber richtig!

 

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