Venedig sehen und sterben oder Meine Mutter mordet

Kriminal Tango in acht Folgen

Autor:
Mechthild Curtius
 

Kriminal Tango in acht Folgen

2. Venedig

August 2012

Zwischen Ried und Wassergräben fährt Katharina zum Ende der Landzunge von Porto Sabbiano. Nach Venedig wollte ich immer, die Hochzeitsreise dorthin habe ich mir aber anders vorgestellt. Und meinen doch kürzlich geliebten Piero abmurksen lassen? Will ich es wirklich? Den Sohn Sandro will ich wiederhaben, was heißt haben, sehen, dass es ihm gutgeht. Was für ein Durcheinander. Zweifel? Mit dem Vaporetto nach San Marco, stehenlassen das Auto. Zu Fuß mit vielen Leuten auf das Schiff. Venedig sehen. Sie guckt nach den Palästen, dem Wasser, den Wolken, auf die Passagiere um sie herum, lässt sich mit ihnen vom Vaporetto runter schieben. Um San Marco flattern zuviele Tauben, Federstaub und Schiet verderben den Blick auf die Bauten. Durch Gässchen geradewegs zur Rialto-Brücke, sie schieben sich, Mann an Frau. Durch wenige Gassen, schon ist Katharina aus dem Gedränge, in der Mittagstille schwappt Brackwasser gegen leere Häuser, im Palazzo hinter rostigen Gittern könnten die Verwandten wohnen, hinter Vorgärten voller Oleander, rotblühend, weiß, rosa. Um mehrere Ecken vorbei an feuchten Lagunen gelangt sie auf die weite Piazza vor San Giovanni e Paolo. Diese Kirche steht auf dem Zettel, der ihr den Weg weist. Am Steg liegt eine Flotte schwarzer Gondeln, mit Wimpeln und Blumengirlanden wie auf den Straßen sonst die Autos bekränzt, die Hochzeitsgondel für das Brautpaar ist mit gelben Rosen und weißen Lilien geschmückt und mit weißer und gelber Seide ausgeschlagen, zwei Gondolieri warten, in weißen Anzügen mit Fallkragen wie Chorknaben und gelben Schärpen, römisch-päpstliche Farben, klein und stämmig der junge, schlank der andere mit grauem Haar, mit dem nachdenklichen Gesicht könnte er ein Mönch sein. Die Braut führt ein massiger Mann über den Platz, Verrocchios Reiter Colleoni guckt von oben auf sie, eine Taube steckt den Kopf in das Loch in der Bronze an der linken Pferde-Flanke. Immer mehr festlich gekleidete Leute sammeln sich. Als zwei kleine Mädchen, in langen weißen Spitzenkleidern mit Blütenkränzen, Miniaturen der Braut, deren Schleier aufnehmen, kann sie noch dem manischen Erinnern an das eigene Kind ausweichen. Als zwei ungefähr vierjährige Jungen, die in schwarzen Anzügen mit Seidenfliegen unterm kindlichen Kinn Miniaturen des Bräutigams mimen, den vorderen Teil der Schleppe hochraffen, späht sie aufgeregt: einer könnte Sandro sein. Nein, die Familien sind ja inzwischen verfeindet. Aber wer kennt sich über die fremden Bräuche schon aus.

Wie hatte sie sich fünf Jahre lang über ihren geliebten Piero getäuscht, Illusionen gemacht, ihn nach ihren früheren Erfahrungen gemodelt. Bequem ist es, Unerklärliches auf fremde Länder und Bräuche zurückzuführen. Sie weiß nicht, was tun, setzt sich an eines der Tischchen. "Die schöne Pizzabäckerin vom Piero aus Francoforto! Was machst du denn hier?" Ein feister Mann kommt auf sie zu, der Hals ist so kurz und fett, dass das Pferdeschwänzchen der Schwarzlocken waagerecht absteht. Alfredo heißen viele. Das ist der gemeinte Alfredo? Der da? Den kennt sie. Der unsympathische Pate, die Taufe in Frankfurt fällt ihr dazu ein. Wie ein Karnickel zwischen Schritt und Nacken hatte er das Kindchen über das Taufbecken gehalten. Abgeschmatzt von oben bis unten, ekelhaft. Wenn das italienisch war, so gefiel ihr das gar nicht. Beim Fest danach hatte sie sich gewehrt; der freundliche ältere Pate Raimondo aus Stripoldo musste zwischen ihnen vermitteln. Ohne ihn wären ihr vielleicht schon damals Zweifel an Piero gekommen. So hat sie gedacht, der Miesling müsse die Ausnahme in der Familie sein.

"Muss dich sprechen." - "Bin noch im Dienst." Er trinkt von ihrem Wein, steht breitbeinig vor ihr, wippt auf den kleinen Füssen in schwarz-weißen Lackschuhen. Noch schmieriger als damals kommt er ihr vor, neu an ihm ist das pinkfarbene Handy, passend zur Seidenkrawatte mit den gelben Girls drauf, rundherum um die Farbenpracht in den Smoking gezwängt. "Geh mir aus der Sonne, du Tonne."- "Frech ist die kleine Sächsin wie immer, haha. Weißt du noch, wie du mir in Sack-sen-haussen dieses saure Geseuf ins Gesicht geschüttelt hast?" -  "Gesöff heißt das, Gesöff. Apfelwein ist es." - "Vino di Mele. Mamma mia. Fürkterlik. Warum trinkt ihr das eigentlich?" - "Weil es in der Wetterau für Weintrauben zu kalt ist." - "Stähl dir nicht dumm. Warum hast du mir nassgeschüttelt?" - "Geschüttet. Das tu ich immer, wenn ein Dummkopf alle Weiber dumm nennt." Alfredo lacht. Ohne Humor ist er nicht. Gutmütig. Eigentlich gefällt er ihr besser als damals in Frankfurt. Dabei ist er ihr jetzt als Killer empfohlen. Da schwankt nicht nur der Boden im Vamporetto, dem Lagunen-Omnibus, da wandelt sie nicht nur in Venedigs Gondeln über Wasser. Ein schriller Ton alarmiert Alfredo. "Pronto?" Er hält das schmale Handtelefon ans Ohr, der Goldring klingelt. Geht ein Stück fort und murmelt. Hört zu, wird ernst, nickt. Katharina beobachtet, wie er seine Haltung verändert. Alles Lässige fort. Er hört auf zu wippen, die Füße fallen schwer auf die Fersen, er steht strack und stramm. Als er das Handy sinken lässt, ist er sekundenlang verstört, fährt sich über die Stirn und schüttelt den Kopf, als müsse er die Gedanken zurecht rütteln, erinnert sich und kommt auf sie zu, knipst sein Feixen an; die Augen können nicht schnell genug wechseln, wenn sie auch von kompaktem Braun sind und wenig Einblicke zulassen: nackte Angst steht darin. "Was hatten wir abgemacht?"- "Uns nach der Hochzeit deines Chefs zu treffen." - "Besser morgen. Besser nicht in Venezia. In Chioggia. Geh ins Albergo Giovanna.  Das gehört mir. Bin Teilhaber. Beruf dich auf Alfredo Boretti. Tschau."

Er schaut sich unruhig um, das Hochzeitspaar kommt aus der Kirche, immer mehr Gäste sammeln sich. Schon wieder zückt er sein Handy. Alfredo ist ihr über, sie bleibt verstört, er hat sich gefangen, feixt wieder breit und wippt auf bei den Füßen. "Spaß beiseite, ich bin noch im Dienst. Nach der Trauung seh ich dir wieder, wenn ich den Boss mit seiner Julietta zum Jet begleitet hab, zur Hochzeitsreise nach Acapulco. Die sind auch nicht mehr, was sie waren, keine Familientradition: unsere Väter machten ihre Hochzeitsreise durch Italien."
Sie geht fort. Wer weiß, wer dabei ist und sie lieber nicht sehen sollte. Katharina schlendert auf die hintere Mole, die Polizia Stradale ist hier zu Wasser unterwegs, und auch die Sanitäterwagen, weiß mit rotem Kreuz, laden vor dem Seiteneingang des Ospedale Kranke ab, Brackwasser ist durch Luken unter den Kliniks-Mauern zu sehen, eine Ratte rennt ohne Scheu vorbei. Operationen über so vielen Keimen, denkt sie, Kranke in Bademänteln promenieren, gegenüber liegt eine Insel, Cimiterio steht auf dem Stadtplan, Friedhof.

Zurück, durch die Tore und leeren Gassen, über die kleinen hochgebogenen Steinbrücken immer an schmalen Lagunen zwischen feuchten Mauern entlang, bis ins Gedränge zwischen Pelz- und Schuh- und Glasgeschäften, Muranoglas, Kitsch und Kunst, für fünftausend Lire Espresso auf San Marco. Wenn sie nicht wüsste, dass seine Familie weit südlich in Ascoli ist, würde sie diesen kleinen Jungen für Sandro halten. Der Wunsch ist der Vater der Trugbilder. Am Markusplatz verstellen die Taubenschwärme noch immer jeden ruhigen Blick, warum die überall fotografieren, die Flügel zerflattern doch alles, eine Gruppe läßt sich von den anderen knipsen, eine Berufsfotografin hält sie beim Knipsen der Knipsenden fest. Das ist wie mit den russischen Holzpuppen, immer eine in der anderen drin. Und die kleinste erinnert sie wieder an caro Bambino, sie kann nicht loskommen von ihm und auch nicht vom Vater, Rache mischt sich mit Liebe, in die Sorge um den Kleinen der Hass auf den Großen.

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