Kriminal Tango in acht Folgen
5 Norcia
November 2012
"Einen dritten falschen Pass hat Alfredo für beide abgegeben im Nuova Hotel Posta. "Ihre Sterne haben die im Lotto gewonnen oder durch Schieberei", spottet selbst er, der mal wieder verwandt ist mit den Hotelbesitzern. Er befiehlt mich auf unser Zimmer, tuschelt mit der Padrona in sehr schnellem Italienisch, so dass ich kaum etwas verstehe, soll ich auch nicht, im Dialekt der Gegend hier vermutlich. Schließlich sind wir nun auf dem Terrain von Pieros Famiglia angekommen. Aufgeregt hat man uns an der Rezeption empfangen, irgendetwas muss vorgefallen sein. Seit dem letzten Anruf unterwegs, mitten in den Bergen, ist Alfredo voller Schrecken vor irgendeiner Gefahr, und, wie ich weiß, dann immer selbst gefährlich. Schlägt los beim geringsten Anlass.
Von Perugia sind wir durch Umbriens Hügel mit Wein und Zypressen nach Süden gefahren, auf die Sybillinischen Berge zu. Vieles heißt nach den Römern. Das weiß er, erklärt es mir voller Stolz, Italia bella, Italia grande. Unterwegs hat er oft angehalten, mir mal schroff und mal scheißfreundlich geraten, mir ein bisschen die "bellissimo paesaggio" anzusehen; einerseits hat mich seine Liebe zur Landschaft verblüfft, anderseits kann er auch gutmütig sein, wenn er sich nicht bedroht fühlt, wie gesagt. Für seine Zwecke kann Alfredo sogar sensibel sein. Kein Mensch ist jede Stunde des Tages ein Bösewicht und ein Killer. Dass der Anblick seiner italienischen Häuser und Hügel mich beruhigt oder geradezu in eine Euphorie versetzt, hat er längst bemerkt, und dass man mich damit bequem ablenken kann. Wir treiben miteinander ein schlitzohriges Spiel: Benutzen und Belauern. Wenn ich den Kopf nach ihm drehe, winkt er ab, dreh dich um, lass mich. Aus den Augenwinkeln beobachte ich ihn trotz dem: er steht neben dem Auto und quatscht in sein Handy, immer wenn er mich rausschickt in den Regen und die Paesaggio angeblich besonders schön ist. Ich bin ja nicht blöde, immer wenn sein Handtelefon gepiepst hat, folgt bald solch ein Bellavista, sobald er im kurvenreichen Gebirge anhalten kann. Und auch zwischendurch manchmal, wenn ihm etwas durch den Kopf schießt und er pronto pronto anrufen muss. Denn keine Minute kann er warten, keine Anspannung ertragen.
Dabei will er allein sein, ich soll nichts hören. Seine Körperhaltung und Mimik verraten ihn mir aber auch von Weitem. Wie in Venedig beobachte ich, wie das letzte Telefongespräch ihn blitzschnell verändert, ihn aus der lässigen Beinhaltung mit den wippeInden Füßen starr vor Entsetzen werden lässt, das ist bei ihm wörtlich zu nehmen. Ihn immer dann zu fürchten, das hab ich in wenigen Tagen gelernt. Keine schöne Landschaft mehr, ins Auto stößt er mich, hinein und weiter. "Ras nicht so, bei diesen Haarnadel-Kurven." - "Maul halten." - "Willst du uns umbringen?"- "Warum nicht?"
Riesengroße Disteln blühen am Wegrand, lila und blau bis in die Stengel, die Weitsicht ist von Wasserdunstschwaden verstellt, einmal lassen die Felsen den Einblick zu in die Tiefe: unten serpentinenkrummer Bach, oben wie ein Pult abgeschrägte Steinplatten, senkrecht sind sie kahl, obendrauf wachsen grüne Bäume, wie Stoppelhaare die Stämme. Unbekannte Landschaften, Orte, Geschichte - die Bilderflut mag die überdeutlichen Träume bedingen, Traumfilme aus Wünschen und Furcht.
Wieder hat Sandro im Traum über den Treppenstufen gestanden, die Arme ausgestreckt und nach der Mutter gerufen. In einer Stadt am Berg vor einem verkommenen Palazzo wie dem hier, sie will hin, da ist Sandro fort, rennt suchend hinein in das Haus, sie sieht ihn, geht näher heran: Da ist er versteinert, ein Putto, ein Steinengel mit dem Gesicht von Sandro, die Nase verwittert, der Mund weit auf. Auf Balustraden stehen Steinstatuen mit Gesichtern seines Vaters Piero, die haben halboffene Münder, sprechen, bewegen sich, dazwischen bewegt sich Piero wie ein Ballett-Tänzer im schwarzen Dress. Historisch ist dieses Hotel, das Haus im Traum kann es sein, "Palazzo Seneca XVI secolo", protzt ein Schild außen, historisch ist auch die durchgelegene Matratze im französischen Bett, da rollen die beiden zwangsläufig zusammen, kein Wunder, dass der Traum mies war. Die Wände in Bad und Raum sind rissig, die Leitungen uralt und gelötet. Eine richtige römische Wasserleitung wäre moderner gewesen. Die Dusche mag Katharina nur vorsichtig benutzen und wäscht Alfredos strengen Geruch mit dem Waschlappen ab. Wie die Wildschweine draußen so durchdringend riecht er. Katharina wacht im Schüttelfrost auf und steht auf, geht ans Fenster. Draußen ist es dämmerig, still bis auf blechernes Scheppern und Brunnenplätschern. Sie blinzelt über die rosenholzrot gebleichten Ziegeln der Dächer gegenüber ins Hochland, auf Castellucci, das Linsen-Plateau, wo der Dunst des Gewitters abzieht. Gestern gegen achtzehn Uhr war die Bergkette in gelblichem Licht, heute morgen grasen graue Ziegen im weißen Nebel, der in die Wolken zieht. Raus aus dem Haus. Im Grand Lit schnarcht Alfredo, der 'Gatte'. Im Parterre des Hotels ist das Altmodische 'schön antik', der Abend war angenehm; kein Mensch kann immer nur in Angst und Schrecken sein und ans Morden denken. Der Padrone hat sie eingeladen. Zum Restaurant geht es durch seinen Salon, ein Gewölbe mit rotbraungrau melierter Freskendecke, die die Jahrhunderte malten, von der Geschichte coloriert ist der ganze Palazzo. Beim Kamin stapelt sich Knüppelholz, Meterstücke junger Eichen. "Die Eichen füttern unsere Schweine und Wildschweine, die die Schinken und Würste der bei Feinschmeckern berühmten 'Norcini' ergeben. Schweine suchen die Trüffeln. Vor allem wegen der schwarzen Trüffeln kommen die Touristen im Herbst von weither." An einem Ende vom Riesenholztisch, schwarzbraun-glänzend, Keramiktopf mit weißblühendem Kalla, unter den Radierungen der Stadt Norcia alter Zeiten, sitzen sie mit Padrone und Padrona beim Mahl. Eine Sichtscheibe zur Küche, wo weiße Köche hantieren mit Haufen von Fungi Porcini und Filetti. Sie essen Chingiale, das ist Wildschwein mit den Lenticie, den Linsen, die im Hochland von Castellucci wachsen. Sie erzählen der Tedesca; sie fängt an, das Theater zu genießen. Von den Wäldern der Chingiale, der Fungi Porcini, den Tartufi, die Weiden der Ziegen, aus denen allen Prochiutto, Salume, Amaro di Tartufo, Amaretti die Tartufi und Pasta wie graue Schnürsenkel gemacht werden, Salsa nera auch. Katharina versteht solche Besonderheiten nicht gleich, und sie übersetzen, dass es sich um Wildschweine und Steinpilze, Salami und die kostbaren Trüffeln handle.