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Monatliche Kolumne des Kultursalons Madame Schoscha
Madame Schoscha (Barcelona) - Herr Altobelli (Berlin) - 3.Brief
Mit Illustrationen von Gastón Liberto (Barcelona) und Larisa Lauber (Berlin)
Illustration: Gaston Liberto
Barcelona, Dezember 2012
Ganze 30 Tage ließen ihre Zeilen auf sich warten und ich begann mich zu fragen, ob mein letzter Brief Sie vielleicht nicht erreicht oder, ob Ihnen das "tägliche Brot" Barcelonas nicht geschmeckt hatte, mein lieber und vermisster Herr Altobelli. Wie groß war also die Freude, als das Klingeln der Tür mich heute aus meinen Arbeiten schreckte, der Postbote sein cartero durch die Sprechanlage brummte und mir Ihren Brief aushändigte, den ich gerade vor dem elektrischen Heizlüfter ein zweites Mal gelesen habe. Sie müssen sich vorstellen, dass der Winter hier zwar milder als in Berlin und von viel Sonnenschein begleitet ist, die Apartments aber meist nicht mit Heizungen ausgestattet und zudem fürchterlich isoliert sind. Das bringt also allerlei elektrische Gerätschaften zum Einsatz, die, in dicken Wollsocken versteckte Füße anblasen und alle zwei Tage zum totalen Stromausfall ganzer Stadtviertel führen, da das barcelonesische Stromnetzwerk für einen solchen Verbrauch nicht gemacht ist. Soviel zu Ihrer romantisierten Vorstellung einer südlichen Metropole am Meer.
Aber ich verliere mich wieder in Wetterbetrachtungen, wo ich Ihnen doch eigentlich für Ihre mir übersendeten Berlineindrücke danken möchte, die mich erreichen wie Regen eine Trockenperiode. Gerne stelle ich mir die von Ihnen beschriebene Stimmung vor und fahre in Gedanken keck auf dem Gepäckträger Ihres Fahrrads mit durch Berlin, vorbei an bestrickten Straßenpollern und begleitet vom „Heimweh nach dem Himmel eines Schneetages im November“, wie Heißenbüttel es formuliert hat. Eine Sehnsucht, die ich auch aus Ihren Zeilen herauslesen kann. Ich sehe Sie mit Ihren großen Füßen durch den Straßenmatsch stapfen, das lockige Haupt in kindlichem Enthusiasmus hier hin und dort hin wendend, auf der Suche nach einer Stadt, die mit den Jahren im Sumpfe des Alltags verloren gegangen war.
Noch in diesem Bild verweilend, führt mich der Baulärm vor meinem Fenster zurück auf die Straßen Barcelonas, zu den gesammelten Eindrücken von denen ich Ihnen heute erzählen möchte. Ich begegnete kürzlich auf dem Bahnhof einem deutschen, in Barcelona lebenden Fotografen, der über meinen Koffer gestolpert war und sich, wohl aus Gewohnheit, auf Deutsch bei mir entschuldigt hatte, wodurch wir schnell ins Gespräch kamen. Ein ausgesprochen reizender Mensch, der mich kurzerhand auf einen Spaziergang durch das Altstadtviertel einlud. Nur wenige Tage später also führte er mich schon hierhin und dorthin zeigend, über die blank getretenen Pflastersteine des Bezirks El Borne flanieren. Bis wir vor dem eigentlichen Ziel unseres Ausflugs standen: Der Kirche Santa Maria Del Mar. Vielleicht haben Sie schon von ihr gehört, sie ist Dreh- und Angelpunkt des gleichnamigen Schmökers La Catedral del Mar von Ildefonso Falcones. Sie wurde in nur unglaublichen 54 Jahren unter den Händen der Fischer, Handwerker und Händler des Viertels und getränkt von deren Herzblut erbaut. Dass die Steine, so erzählt es Falcones Roman, auf dem Rücken der Menschen vom Hausberg Montjuïc in den Borne getragen wurden, scheint allerdings eine Legende. Sie wurden vielmehr mit Schiffen in den Hafen geliefert, denn das Meer, wie der Name es nahe legt, ruht vor den Pforten der Kirche.
Über deren ausgetretene Stufen also in das Kirchenschiff gestolpert, schrumpft man im selben Moment auf das eigentliche Zwergenuniversum zusammen, in dem man alltäglich um sich selbst zirkelt, angesichts der Ausmaße des katalan-gotischen Kolosses, durch dessen Fenstermosaike letztes Tageslicht blauschimmernd fällt und alles in ein kirchlich schickliches Halbdunkel taucht. Welches vom Geruch des Kerzenwaches, des modrigen Holzes, der feuchten Teppiche und alten Gemäuer durchzogen wird, und in das sich das Knarzen der Bänke mischt, wenn Menschen aus allen Herren Ländern und tatsächlich in aller Demut sich auf sie setzen oder daraus erheben. Der eine oder andere ein unsichtbares Kreuz mit den Fingern über Gesicht und Thorax gezeichnet.
Während mein Blick noch all diese Eindrücke betastete, stand schon eine junge Dame bereit uns auf eine vom Fotografen gebuchte Führung mitzunehmen. Aber es ging nicht im Kirchenschiff auf und ab, zäh von einer Heiligenskulptur zur anderen schlurfend. Nein, wir stiegen auf das Dach der Santa Maria Del Mar! Seit Bau der Kirche vor einigen hundert Jahren, gab es keine solche Führung, sie wurde 2012 ins Leben gerufen und nun wegen Umbauarbeiten wieder eingestellt. Wir erhielten also die erste und letzte Kirchendachführung.
Über verschlungene Wendeltreppen stiegen wir in vollkommener Dunkelheit, unsere Finger zur Orientierung über die kühlen Steinwände streifend, Stufe um Stufe, immer weiter nach oben. Durch eine letzte Tür gelangten wir auf das Dach, das inmitten von Barcelona über die Stadt ragt. Das Besondere an dieser Kirche ist, dass sie nicht wie sonst auf einem ausladenden Platz erbaut wurde, sondern inmitten des Wohnviertels. Sodass sich die Nachbarschaftshäuser vertrauensvoll an das Gotteshaus lehnen können, kaum getrennt von schmalsten Gassen, in denen die Touristen ihre Kreise ziehen und über die hinweg man die Menschen in ihren Wohnungen beim Duschen, Lesen und Kochen beobachten kann. Und in die Versuchung gerät, nach einer Tasse Zucker zu fragen, flüsternd, den ausgestreckten Arm in eines der Fenster reichend.
Der Blick über die verschachtelten Flachdächer, die ineinander greifenden, zusammen gewürfelten Terrassen, die Wäsche auf den Leinen, über die vereinzelt Möwen kreisten, all dies ließ Barcelona in einem anderen Licht erscheinen. Das Bauchaos der dicht besiedelten Viertel und die zum Teil fragwürdige Bauart der Häuser sowie die berühmten, in der Ferne miniaturartig wirkenden Gebäude, all dies ließ die Stadt mit einem mal verletzlich unter mir da liegen. „Barcelona ist eine Stadt im permanenten Aufbruch. Ständig wird ausgebaut, abgerissen, wieder aufgebaut“, schreibt Ulrike Fokken in ihren literarischen Streifzügen durch „Barcelona“. Und eben dieser permanente Auf bruch offenbarte sich mir in diesem Moment in einer bislang nicht erlebten Verletzlichkeit, dieser sich in beständiger Selbstsuche, unter ewigem Abriss und Wiederaufbau und in ewigem Kreißlauf befindlichen Stadt. Und mit einem Mal wehte mir ein milde gestimmtes, freundschaftliches Gefühl entgegen, ganz so, als hätte Barcelona endlich auch für mich den inneren Heizlüfter angestellt. Hinter dem Tibidabo ging die Sonne unter und tauchte alles in zuckerwattefarbenes Licht und beschien die fernen Mapfre-Hochhäuser, die wie zwei urbane Leuchttürme aus der Stadt strahlten. Und am Horizont das schwarze Meer, das sich hinter Barcelona erhob, als versinke es im Vordergrund darin. Ein barcelonesisches Atlantis, das ich, wie einst Mascha Kaléko Berlin, noch immer suche und aus dessen Mitte die Spitze der Santa Maria Del Mar ragt. Wie passend für uns aufgelegt, wehte in diesem Moment aus einer der gegenüberliegenden Wohnungen „Ao Longe O Mar“, der Portugiesen Madredeus. Bitte hören Sie dieses Lied bzw. die Aufnahmen der Gruppe mit der Sängerin Teresa Salgueiro aus den 80igern und 90igern, die damals auch schon Wim Wenders für einen seiner Filme entdeckt hatte. Und Sie werden für einen Augenblick dort mit mir auf dem Kirchendach stehen.