Und fürchte dich nicht vor dem Tod

Monatliche Kolumne des Kultursalons Madame Schoscha

Autor:
Kathrin Schadt
 

Monatliche Kolumne des Kultursalons Madame Schoscha

Madame Schoscha (Barcelona) - Herr Altobelli (Berlin) - 3.Brief

Von hier oben schien die Stadt von unendlichen Lichterketten illuminiert, eine Miniaturwelt, deren Verletzlichkeit von meinem in dieser Höhe angewachsenen, riesigen Zyklopenauge seziert wurde, eine Miniaturwelt, über die ich mich beugte, wie über die kleinen Häuser und Figuren eines erleuchteten Krippenbildes.

Als wir die Santa Maria Del Mar hinter uns ließen, um zur Kathedrale hinüber zu bummeln, die nun pompös und prahlerisch den großen Marktplatz überragte, waren tatsächlich überall Krippen in den Buden des Weihnachtsmarkts Santa Llúcia aufgebaut. Und so begegnete mir unverhofft der caganer - verzeihen Sie - der Scheißer. Eine kleine Figur, die in der katalanischen Weihnachtskultur in jeder Krippe zu finden ist. Stellen Sie sich vor, mein Freund, Sie beugen sich über ein festlich geschmücktes Krippenbild, da sind Maria und Josef, dort liegt das Jesuskind im Stroh. Und neben dran: Hockt ein traditionell gekleideter, katalanischer Bauer mit heruntergelassener Hose im Kunstmoos, sein blank lackierter Hintern glänzt unter der grellen Marktstandbirne und aus dem trockenen Moos heraus können Sie einen kunstvoll drapierten Haufen ausmachen. Selbst als Atheist, der sich wenig den christlichen Traditionen verbunden fühlt, löst dieses Bild ein elektrisierendes Schamgefühl aus. Beinahe möchte man sich reflexartig die kratzende Wollmütze vom Kopf reißen und über Hintern und Haufen werfen oder spitzbübisch einen der anderen Marktbesucher mit dem Ellbogen auf das gerade Entdeckte aufmerksam machen. Da fällt der Blick auf die Krippe nebenan. Auf den Stand nebenan. Und plötzlich eröffnet sich ein ganzes Universum hockender Figuren, blanker Hintern und gezwirbelter Haufen. Ganze Stände bieten sie in Reih und Glied in Stufenregalen an. Und plötzlich erkennen Sie unter den Figuren auch bekannte Gesichter: Da hockt Angela Merkel in einem ihrer unverkennbaren Kostüme, dort drüben Michelle Pfeiffer als Catwoman verkleidet und direkt neben dran entleert sich Picasso in einem blauweiß gestreiften Sweater. Überall erleichtern sich Milliarden kleiner Figuren - Persönlichkeiten, Politiker und alte Pappenheimer.

Auf der offiziellen, auch ins Deutsche übersetzten caganer-Seite, fand ich hierzu dieses erfreuliche Angebot: „Geschäftsgeschenke: Beantragen sie einen zugeschnittenen Scheißer für Ihre Firma, als Erinnerung an Ihre Hochzeit, für einen Freund oder betreffs einer Tradition die Du symbolisieren willst. Wir erarbeiten eine Form und ein Modell für deine Dekorationsfigur (oder wir verändern einen Scheißer aus unserem Angebot).“

Ursprung findet die caganer-Tradition irgendwo im 17. Jahrhundert, ihre Bedeutung ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Die Interpretationen reichen über den caganer als Symbol für einen gesunden und ausgeglichenen Körper, bis hin zu einem simplen Glücksbringer. Stellt man die Figur ins Krippenbild, bringt sie Gesundheit und Freude, ihr Fehlen bedeutet Missgeschick. Manche glauben, die Figur stelle dem christlichen, sakral aufgeladenen Urbild die menschliche Seite gegenüber. Andere formulieren den Gedanken weiter und sehen im caganer ein Symbol für die Gleichheit aller Menschen, die bisweilen alle dieser gewissen Erleichterung folgen müssen. Und wieder andere gehen soweit, dass der caganer die Menschlichkeit Jesus` verkörpere, Gott in seiner menschlich(st)en Form. Eine andere Überlieferung, die mir am sympathischsten ist, erzählt, dass einem bei der Geburt Christi anwesenden Hirten die Aufregung auf den Magen schlug und er sich eiligst hinter einem Busch entleeren musste.

Meist steht der caganer aber mittlerweile für Fruchtbarkeit, für eine gute Ernte im neuen Jahr. Gesichert ist diese Interpretation aber auch nicht, und betrachtet man die kleine, hockende Figur, möchte einen der leise Verdacht beschleichen, dass ihr erst im Nachhinein eine so ehrenhafte Rolle zugesprochen wurde: Anschaulich und symbolisch zugleich düngt er den Boden, sorgt für Fruchtbarkeit und führt auf eigenwillige Art den Einklang des Menschen mit der Natur vor Augen. Neben dem neugeborenen Jesuskind steht der caganer, vielmehr hockt er, für den Kreislauf des Lebens.

Caganer Flamenca
Quelle: cagener.com

Apropos neugeborenes Jesuskind und Kreislauf des Lebens. Ich wollte Ihnen noch unbedingt von dem Autor Felix Pestemer erzählen, dessen Lesung ich kürzlich besucht habe und dessen Comicroman "Staub der Ahnen" genau von diesem Thema handelt. Also vom Kreislauf des Lebens, vor allem vom Sterben. Er erzählt vom mexikanischen Totentag, wurde nun ins Spanische übersetzt und hier im Goethe-Institut vorgestellt. Es ist ein beeindruckendes Werk, bitte lesen Sie es. Aber vor allem bewundern Sie seine magischen Illustrationen. Denn es sind die Bilder, die diesen Band zu einem Kunstwerk machen. Sie können Stunden damit verbringen seine seitenfüllenden Illustrationen zu betrachten und deren Details zu entdecken: Einen völlig anderen, angstfreien Umgang mit dem Tod. Der sich nicht wie bei uns in Krankenhäusern und Altenheimen im Verborgenen abspielt, weil ihm etwas Fremdes und Bedrohliches anhaftet, sondern in Mexiko mit Totenköpfen aus Zuckerkuss und Altären für die Verstorbenen im Wohnzimmer in den Alltag integriert wird. Paul Westheim fasst es zu Beginn des Buches am besten zusammen: „Der Europäer, für den der Gedanke an den Tod ein Alptraum ist, der es nicht liebt, an die Vergänglichkeit des Daseins erinnert zu werden, steht einer Welt gegenüber, die frei zu sein scheint von dieser Angst, die mit dem Tode spielt, sich über ihn lustig macht […].“

Und so bleibt mir zum Abschiedsgruße nur das katalanische Sprichwort: „Menja bé, caga fort i no tinguis por a la mort! („Iss gut, scheiße kräftig und fürchte dich nicht vor dem Tod!“).

In diesem Sinne genießen Sie meine mitgesendeten, selbst gebackenen Kekse sowie den kleinen caganer aus Schokolade.

Warmherzigst

Ihre Ihnen stets gewogene

 

Madame Schoscha

 

PS: Anbei wieder eine Illustration von Gastón Liberto, aus seinem großformatigen Bild „Barcelona – Dulces Sueños“. Wie schon im letzten Brief angekündigt, lassen sich die Illustrationen nach und nach zu einem Gesamten zusammensetzen.

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