weitere Infos zum Beitrag
Essay
Was ist der Fall? Wie ist es der Fall, wenn es der Fall ist?
Januar 2013
Eigentlich fällt einem alles zu. Dinge und Geschehnisse, die uns betreffen, fallen uns zu. Auch Dinge, die wir tun, lapidare und tragische, der frühmorgendliche Blick in den Spiegel, der abendliche Espresso in der schummrigen Bar nach einem harten Tag, selbst Streit, der nichts schlichtet, fallen uns zu. Und wenn es uns zufällt, steht es uns zu, bleibt hartnäckig an unserer Seite und bildet einen Teil unseres Lebens. Unsere Sprache ist da ganz raumzeitlich organisiert. Der Fall der Dinge zu uns hin und wie sie dann bei uns bleiben. Das hat mit persönlicher Schwere zu tun.
Ich sitze auf dem Bett und wärme meine linke Hand unterm Zudeck im Schoß. Die rechte hält ein Buch. Ich mag es, mich an mir selbst zu wärmen. Es erinnert an eine Kinderzeit in unbeheizten Zimmern, Eisblumen am Fenster und dampfender Atem vorm Mund. Es erinnert an Stirn an Stirn unter der Decke, gemeinsames Spiel mit den Fingern im Licht einer Höhle und verzaubertes Flüstern. Sonntag morgens, wenn wir Geschwister nicht raus mussten und durch die Kälte zu Fuß die Hänge hinauf zur Schule.
Draußen rauschen vereinzelt Autos vorbei und Krähen halten mit Möwen ein heftiges himmlisches Palaver über dem Fluss. Ich lese planlos in Murray Gell-Manns „Das Quark und der Jaguar“, blättere unangestrengt, ein Kaffee duftet auf dem Nachtschränkchen. Daneben eine alte schwarze Schreibtischlampe mit biegsamem, geringeltem Hals und ein schlichter kleiner schwarzer Wecker, den man leise ticken hört. Leicht tuckert durch den Raum, was der Zeiger als Zucken zeigt – die dumpfe Fülle des akustischen Ereignisses passt nicht so recht zur Hektik der roten Nadel. Irgendwie schnalzt sie spitz um spitz vor und das Echo der Zeit hallt im Gang der Mechanik wie der Verschluss eines weit entfernten schweren Schlosses hinterher. Man hört es nicht mehr, wenn man liest.
Dass ich hier sitze, ist mir zugefallen. Die Jeans, die über dem Bistrostuhl beinverdreht in der Ecke hängt, ist mir zugefallen - dass dieses alte Haus, das ich als Hotel bewohne, mich umgibt und dass ich bevorzugt weiße T-Shirts trage, dass ich unrasiert bin und darauf bestehe, deswegen kein schlechter oder schlampiger Mensch zu sein. Was hier mit mir im Raum ist und ihn mit mir teilt, ist ein Zufall. Auch dass ich mich für philosophische Themen interessiere und gerne vor mich hin schreibe ist ein Zufall. Beim Schreiben fallen die Worte zu, die eigentlich Ideen sind. Sie erweitern das Zuhause um Musiker und spielen Konzerte.
Vom Schreiben weiß ich, was es kann. Es vereinfacht das Darlegen von Komplexem. Es bringt Dinge zueinander schon indem es sie nebeneinander hinlegt. Das Quark und der Jaguar. Fixgrößen in persönlichen Dschungeln. Als ich vor zwei Tagen in einem Heidelberger Antiquariat in das Buch von Murray Gell-Mann hineinlas, war das ein Zufall und ich freute mich aufs Lesen zuhause, wozu für mich seit längerem mehr gehört, als mit den Augen Zeile für Zeile einen Text zu entschlüsseln. Kaffee im Bett, und jede Menge Zeit, die man vergisst, Zeit, die ich sonst nicht habe, Zeit, für Herumflüge, die möglich sind aufgrund der Sätze des Buches, der geheimnisreichen Textur einer fremden Grammatik. Manchmal ist es nur ein einziger Satz, der so stark inspiriert, dass man auf ihm abhebt und den ganzen Tag nicht mehr von ihm runter kommt. So ein Flug fällt einem zu.
Autoren fallen einem zu. Ich erinnere genau den Moment, als mein Auge sich an dem Buchrücken verfing. Ich war für Weihnachtseinkäufe unterwegs und hatte nur wenig Zeit und wusste, dass ich es bis in den dritten Stock zu den Lyrikregalen des Antiquariats nicht schaffen würde, in denen ich gerne nach alten Expressionisten gestöbert hätte. Neben mir schnappte ein lederner, bärtiger Rothaar in schweren schwarzen Klamotten nach Zierpflanzenbüchern und ich nahm das ungeheure Durcheinander wahr, in dem das Regal vor mir „Wissenschaften“ als Sortierbegriff feilbot. Eine ultradicke Einstein-Biographie direkt auf Augenhöhe, den Blick die Zeile entlang, älteres Standardzeug von Eibl-Eibesfeld, Lorenz, Prigogine und Hawking, dann die nächste entgegengesetzt zurück bis wieder direkt vor die Nase, wo ein Jaguarkopf auf dem Rücken eines Schutzumschlags überrascht und der Name Murray Gell-Mann, der mir schon einmal begegnet war. Ein sehr konkreter Zufall aus den Urwäldern meines Hirns, von dem ich mir nicht sicher war, warum er stattfand. Ich wusste nicht viel vom Autor, außer dass er Quantenphysiker war, las überfliegend das Inhaltsverzeichnis und die Klappentexte und das Versprechen, dass hier jemand die „einfachsten“ Dinge der Welt mit dem Komplexen zusammendenken wollte, machte mich neugierig. Wenn Physiker über ihre Fakultätsgrenze streunern, dann öffnen sie sich und riskieren etwas. Ein Jaguar kommt auf sie zu und fällt sie an. Ein Bettler steht da und will fünf Dirham. Eine Tochter weint, weil ihr Freund kein Freund ist.
Murray Gell-Mann erhielt 1969 den Nobelpreis für Physik für seine vielgestaltige Rolle bei der Entwicklung der „Quarks“ im Standardmodell der Quantenphysik. Auch der seltsame Name der Quarks stammt von ihm. Er entnahm ihn einem Nonsense-Vers aus James Joyces Roman Finnegans Wake: Three quarks for Muster Mark. Joyce hatte das Wort auf der Durchreise auf einem Bauernmarkt in Freiburg im Breisgaugehört, als Marktfrauen ihre Milchprodukte anboten. Auch bei der Benennung des Sortenreichtums der Quarks bewies Gell-Mann Humor. Als er 1968 zusammen mit dem Teilchenphysiker Harald Fritzsch auf dem Weg zum Mittagessen an einer Eisdiele vorbeikam, erinnerten die Bällchen und wie sie aneinander kleben an die Quarks und da die Eisdiele in großer Überschrift 31 Geschmacksorten = flavours anbot, übernahmen sie kurzerhand den Begriff flavours für ihre Bällchen = die Quarks, die in den Rechnungen auch gleichartig „aussahen“, aber mit verschiedenartigen „Aromen“ in die Quantenprozesse eingriffen.
Bild: Murray Gell-Mann Quelle: Wikipedia Ein Proton, bestehend aus zwei up-Quarks und
einem down-Quark Quelle: Wikipedia
Der Umschlagtext war eher abstoßend: „Das Buch bietet eine einzigartige ganzheitliche Vision unserer natürlichen Umwelt. Zugleich erleben die Leser den Nervenkitzel mit, den geniale Wissenschaftler wie Murray Gell-Mann erleben, wenn sie die Kette der Beziehungen erforschen, die das Einfache (z.B. das Quark) mit dem Komplexen (z.B. dem Jaguar als dem Ergebnis einer langen Evolution) und dem Menschen verbinden.“ - einzigartig, Nervenkitzel, genial - was für ein grausamer Text. Ein Kilo bester Bananen zu nur einsfünfzig! Entdecken Sie den unnachahmlichen Reiz von Sex mit Strapsen! --- wie primitiv man hier angebellt wird, wo es doch gerade darum geht, sich aus dem Vereinfachen zu lösen, komplex zu werden auch im Denken. Und drunter dann noch ein absolut nichtssagendes Zitat des unvermeidlichen Hawking. Wenn wir übers Universum reden, dann muss er dabei sein, damit es die Leute kaufen. Das ist einfach nur billig. Aber so funktioniert unsere Welt. Für die, die glauben, dass sie so funktioniert.