# 002

IN AUGENSCHEIN - Gespräche über anonymisierte Texte (# 002). Zu Gast: Lutz Steinbrück

Februar 2013

Der Fülle des lyrischen Textes steht die besonders hingegebene Lektüre gegenüber. Wie es den Text zu neuen, erleuchtenden Wortverbindungen treiben kann, wenn er sich den Spielen, Zwängen und Anforderungen eines lyrischen Einfalls hingibt, so kann auch die Lektüre durch Beschränkung in neue Richtungen wachsen: und an Aufmerksamkeit gewinnen, wenn die Sicherheit gewohnter Fangnetze fehlt. In dieses Wagnis will sich die Reihe Augenschein begeben, indem sie im Gespräch mit Lyrikern über Lyrik Namen und Titel verdeckt. Der blinde Fleck über dem Namenszug der Autoren soll einen freieren Blick auf das erlauben, was die Signatur ihrer Texte ausmacht. Da geht es um Stile, mehr als um Inhalte; gerade deshalb geht es um Beobachtungen und nicht um Wertungen. Kein Quiz, sondern ein Spiel, dessen Regeln sich im Moment erst formen. Nur das Material ist gegeben und älter als wir. Wir bleiben familiär, wir wollen spazieren, die Augen, Ohren und Hirne weit aufsperren. Deutlichkeit und Lösung können dabei selbstverständlich nicht in unserem Interesse liegen.

Lutz Steinbrück, 1972 in Bremen geboren, ist einer der scharfen Realitätsbeobachter unserer Tage. Entsprechend gehen Humor, Galle und Absurdität im Ton seiner Lyrik gemeinsam durcheinander: Eine reich gemischte Frucht, die sich in seinen beiden Bänden Fluchtpunkt:Perspektiven (Lunardi, Berlin 2008) und Blickdicht (J.Frank, Berlin 2011) kosten lässt. Daneben macht er Musik in Bands (2007-2011 mit den Nördlichen Gärten, seit 2012 mit megamau) und arbeitet seit 2004 von Berlin als Journalist für Print- und Onlinemedien.

 

Eine Form des unerwarteten Erstkontaktes mit Lyrik, bei dem es oft sehr schnell gehen muss mit dem Verständnis und der Aufmerksamkeit, ist ja die klassische Lesung. Was regt Sie bei einer Lesung an, welche Charakteristiken der Wortverbindung gehen Ihnen da schneller ins Blut als andere? Oder geht es in eine ganz andere Richtung, nämlich die der Inhalte?

Wichtig bei Lesungen finde ich, wie Autoren ihre Texte transportieren. Spürbar positiv ist eine Identifikation von Dichter und Gedicht im Sinne eines Aufgehoben-Seins des Lyrikers im eigenen Text und Vortrag. Eine solche Art von Einheit ist aus meiner Sicht nötig für eine schlüssige, ausdrucksstarke Lesung. Im konkreten Ausdruck kann es zum Beispiel vehement, spielerisch-ironisch oder einfühlend sein. Das sehe ich als möglichen Mehrwert einer Lesung im Vergleich zur Lektüre. Ein Gedicht, von dem ich beim Lesen angetan war, kann durch einen uninspiriert-gelangweilten oder schlecht betonten Vortrag an Überzeugungskraft verlieren. Umgekehrt kann ein Text, der mich als Leser nicht überzeugt hat, bei ausdrucksstarkem Vortragsstil gewinnen. Ich finde aber auch, dass Autoren kein zu kalkuliertes, automatisiertes Vorleseprogramm anstreben sollten. Literaten sind keine Schauspieler. Spontaneität, der Faktor Tagesform und Unvorhergesehenes gehören für mich auf Lesungen dazu.

Ist die Beziehung zwischen Gedicht und Vortrag jener zwischen Stil und Inhalt eines Gedichts verwandt? Unterscheidet sich die Gewichtung der Komponenten Stil und Inhalt in der Lektüre hier und im eigenen Schreiben dort?

Es gibt wohl eine Verwandtschaft in der Weise, dass Gedichte in einem bestimmten Stil verfasst sind und auch dadurch Inhalte vermittelt werden und dass der Vortragsstil ebenfalls zur Vermittlung von Inhalten beiträgt. Allerdings finde ich Stil und Inhalt als Gegensatzpaar in der Beschreibung von Gedichten problematisch – sowohl in der Lektüre als auch beim eigenen Schreiben. Ich möchte da keine Trennung vornehmen, weil ich Texte als sprachliche Einheit verstehe, zu der beide Komponenten gehören – zum ganzheitlichen Wesen eines Gedichts. Was nicht heißt, dass sich inhaltliche und stilistische Aspekte nicht auch isoliert beschreiben ließen. Ich schreibe nicht von Themen ausgehend, indem ich etwa die Zeitung aufschlage, etwas Interessantes lese und dann ein Gedicht dazu verfasse. Meine Gedichte haben ihren Ursprung meist in Formulierungen, die ungeplant in den Kopf geraten und die ich dann aufschreibe. Das sind Initialzündungen, die mich spontan anstrahlen, für sich einnehmen und zum Weiterschreiben reizen, ohne dass zu diesem Zeitpunkt eine inhaltliche Richtung vorhanden wäre. Ein aktuelles Beispiel ist „rechtwinkliger Tangoernst“.

Das ist genau die Frage: Ist in diesem Auftauchen der Ideen eigentlich die Form des Sprechens zuerst da oder der Gegenstand des Sprechens?

Die Formulierung ist da – zeitgleich in Form und Gegenstand. Wenn sie mich reizt, wird sie notiert. Sie wandert vom Zettel in eine Datei und wird Teil einer Materialsammlung, mit der ich arbeite. Manche Ideen verkümmern dort, andere werden zu Anfängen oder anderen Bestandteilen von Gedichten. Ich schreibe eher in wenigen schnellen Schüben und widme mich meistens den Ideen, die in dieser Weise für mich funktionieren und ein zeitnahes Ergebnis bringen. Es gibt keine Fragmente, die zwei Jahre halbfertig in der Schublade gelegen haben, die ich dann wieder aufgreife und fertigstelle.

Bei Lyrik ist das Verhältnis von Brutzeit und Qualität schwer auszumachen.

Stimmt, es gibt da natürlich kein gültiges Rezept. Diese Beziehung wird in Gesprächen über Lyrik immer wieder thematisiert. Andere Autoren überarbeiten ein Gedicht über mehrere Monate oder länger, nehmen immer wieder Änderungen vor – oder es bleibt lange in der Wartschleife, ehe sie überzeugt sind, es zeigen oder veröffentlichen zu wollen.

Horaz empfiehlt bekanntlich neun Jahre.

(lacht) Wenn es dann mal nicht verschimmelt.

Das waren auch die Zeiten, als Lyriker nicht mit Euro, sondern mit Landhäusern bezahlt worden sind. Jedenfalls, um nun noch einmal bezüglich des Stils vom Schreiben aufs Lesen zurückzukommen: Sie sind ja, wie ich Sie kenne, jemand, der zeitgenössische Lyrik auch liest.

Ja, eines dieser seltenen Exemplare. Wie bei eigenen Ideen erlebe ich auch beim Lesen aktueller Lyrik Aha-Momente. Meistens, wenn mich Formulierungen oder Zeilen überraschen, weil ich sie neuartig, ungewöhnlich ausdrucksstark finde und/oder weil mich der Text in seiner Komposition überzeugt. Der schöpferische Umgang mit Sprache drückt sich stark in stilistischen Merkmalen aus. Inhalte im Sinne allgemeinverständlicher Aussagen sind nicht wesentlich. Lyrik mit zu deutlichen oder agitatorischen Aussagen läuft leicht Gefahr, platt im Ausdruck zu werden und kann schnell langweilen, nach dem Motto „Schnell lesen, schnell lernen“. Die wenigsten zeitgenössischen Lyriker, die ich kenne, sehen darin einen Sinn von Dichtung.

Dann lassen Sie uns doch gleich mit einem poetologischen Text anfangen, bei dem sich die Frage stellt, wie ironisch oder platt deutlich das tatsächlich ist.

 

I.

 

Ah, heute fehlte mir völlig die Puste

für das Quentchen Wahnsinn,

das bescheidene Maß Rausch,

ohne das wir lebendig vereist

und begraben sind, ich lief rum

sah nichts

fand die Sonne grausig

die Jahreszeit albern

das Bier trist

Bäume gespenstisch, Menschen

mit ihren Gesichtern, ihrem

Geseire schlicht fatal, ficken hilft auch nichts,

schreiben ist wie Spuren ins Spülwasser ritzen,

ein einziger Blick

in die Gegend genügt: lächerlich, ein

Nirwana für Nieten.

 

Das ist ein poetologischer Text? Spontan springt mir „schreiben ist wie Spuren ins Spülwasser ritzen“ ins Auge, ein eindrucksvolles Bild, das die Vergeblichkeit des eigenen Schreibens festhält. Das seufzende Ah zu Beginn... irgendwie mütterlich-resigniert als Anfang eines Selbstgesprächs. Tristes Bier dagegen ist tendenziell männlich (lacht). Grundsätzlich klingt das Gedicht schon zeitgenössisch, auch großstädtisch, das Geseire und die Gesichter der Menschen, möglicherweise Berlin.

Ist das nicht bemerkenswert, dass das sofort großstädtisch klingt?

Es deutet schon darauf hin. In jedem Fall ist es kein avantgardistisches Gedicht im Sinne von hermetisch, schwer erschließbar, sondern zugänglich und sinnhaft in seiner Alltagssprachlichkeit. Da fallen schon viele Autoren der heutigen Gegenwart weg. Viele würden auch nicht „ficken“ schreiben. Das ist schon sehr geradeaus, scheinbar ungeformt. Moment... ich sehe da auch eine Brinkmann-Note, so einen 70er-Jahre-Subjektivismus.

Wo oder wie würdest du den festmachen?

„Bäume gespenstisch, Menschen / mit ihren Gesichtern, ihrem / Geseire schlicht fatal, ficken hilft auch nichts“, das könnte ein Brinkmann-Zitat sein. Wobei „Nirwana für Nieten“ nicht zu ihm passt. Dieses Gedicht  gibt sich geerdet, hat aber auch einen Zug ins Schemenhafte, Surreale. Ich sehe es irgendwo in der westdeutschen 70er-Tradition, in Richtung Nicolas Born, Rolf Dieter Brinkmann, vielleicht Jörg Fauser, aber ich kann mich da nicht auf einen Autoren festlegen. Tippe aber auf einen Mann. Bier und ficken in einem Text, das ist wahrscheinlich jemand, der ein Glied trägt. Insgesamt finde ich den Text eindeutig und nicht allzu spannend, aber auch nicht schlecht.
 

zurück