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Statement
„Niemand ist unschuldig.” (Jacques Derrida)
Juli 2013 | Hamburg
Wer heute von einem Skandal des US-amerikanischen Nachrichtendienstes NSA spricht, hat womöglich nicht verstanden, daß das, womit wir es zu tun haben, aus mehreren Skandalen besteht, die strukturell voneinander klar zu unterscheiden sind. Diese seien hier, ohne sie im Einzelnen auszuleuchten, zumindest in Erinnerung gerufen.
1. ist da natürlich der Lauschangriff, von dem die Rede ist; ohne entsprechende Rechtsgrundlage und ohne Rücksicht auf die Judikatur verschiedener Nationen wurde auf private Daten und Informationen von unzähligen Menschen zugegriffen.
2. ist aber zu erwähnen, daß das nicht wirklich neu ist: Prism ist bloß ein neuer Name für längst Bekanntes. Nicht zufällig besagten die Pressemitteilungen der von Prism betroffenen Konzerne, von einem Programm „dieses Namens” nicht gewußt zu haben. Google war über In-Q-Tel (ein mit der CIA assoziierten Unternehmen, das man unter dem Namen Peleus gründete, damit die CIA indirekt in sicherheitsrelevante Zukunftstechnologien investieren, diese aber auch steuern könne) längst mit der Welt der Geheimdienste innig verbunden. Google Maps verdankte sich überhaupt erst dieser Zusammenarbeit, Recorded Future verbindet CIA und Google gleichfalls. Ferner ist Echelon längst bekannt; und wer glaubte wirklich, die Möglichkeit, Glasfaserkabel anzuzapfen (wie beim nun thematisierten Tempora Großbritanniens), werde erst seit kurzer Zeit genutzt? All das ist bekannt, wird aber ignoriert – ein Skandal, was Medien und mündige Bürger angeht, die einer zum Teil „selbst verschuldeten Unmündigkeit” nachhängen, wie sie jedenfalls seit 1784 beklagt wird.
3. erstaunt, daß eben jene Daten, die man der NSA nicht liefern möchte, auf facebook teils dem User kaum bekannten Mitmenschen, vor allem aber immer dem Privatunternehmen Zuckerbergs bereitwillig zur Verfügung gestellt werden. Man würde vermutlich einen Polizisten ohne Durchsuchungsbefehl nicht zwingend in die Wohnung bitten, obwohl man nichts zu verbergen hat – würde man aber dann einen dubiosen Vertreter eines privaten Umfrageinstituts sein Heim photographieren lassen oder ihm gleich Schnappschüsse schenken, dazu seinen Tagesablauf und seine Vorlieben auf Fragebögen eintragen? Ist nicht erwartbar, daß Facebook, das damit wirbt, kostenlos sowohl zu sein als auch zu bleiben, nicht die User als Kunden hat, sondern jene, denen die analysierten Daten verkauft oder aus Eigeninteresse gegeben werden, also auch der NSA..?
4. aber ist dann der Skandal der NSA selbst die mangelnde Professionalität: eine derart eingelullte und sorgenlose Öffentlichkeit, für die das Internet offenbar wirklich „Neuland” (Angela Merkel) geblieben ist, auf sich aufmerksam zu machen, indem ein Leiharbeiter viel zu tiefe Einblicke bekommt und diese aus welchen Motiven auch immer weitergibt, ist laienhaft. Man könnte unterstellen, daß es auch eher dies ist, als der Zugriff der NSA auf Daten, was alle verschreckt; man will die Ingenieure unserer Sicherheit nicht ständig sehen, wie man die Mechaniker seines Autos nur selten treffen will.
5. überraschen die Kurswechsel in der öffentlichen Meinung, denn angesichts des Bostoner Anschlags zieh man noch vor kurzer Zeit die amerikanischen Geheimdienste der Fahrlässigkeit, weil sie die Täter, denen man zuvor nichts als eine Radikalisierung ihrer Gesinnung vorwerfen konnte, „aus den Augen verloren” hatten. Natürlich kann man zugleich auch hier einen Mangel an Professionalität erkennen (wollen), einen Geheimdienst, der bei exponentiellem Steigen der Informationsquantität trotz der Qualitätssprünge bei den Suchalgorithmen von dem, was er nach dem kurzschlüssigen Verständnis derer, die Wissen für etwas Passives halten, weiß, erdrückt wird. Zugleich ist hier zu sagen, daß die NSA eben doch nicht auf Einzeltäter und die Überwachung der Zivilbevölkerung abzielt, jedenfalls ihrem Auftrag nach; und, daß der Tod „durch Dampfkochtöpfe” statistisch negliabel ist, James Bamford wies darauf hin, daß nach 9/11 in den USA islamistische Terrorosten 20 Menschen töteten, während 300 000 Menschen durch Handfeuerwaffen starben, deren Besitz besser zu reglementieren dennoch ein kaum durchzusetzendes Anliegen zu sein scheint.[1]
6. ist die reflexartige Zurückweisung der Anklage Edward Snowdens wegen Spionage abwegig. Diese kategorische Verweigerung vor jener Deutung ist womöglich Ausdruck einer Hysterie, die indes vorangegangenes Dämmern nicht kompensiert; sie verdankt sich ferner unter anderem wohl einem antiamerikanischen Affekt, der die Äußerungen seitens der USA allzu gerne sofort als unwahr betrachtet. Selbst wenn aber jene, die nun den Vereinigten Staaten einzig noch das Schlimmste zutrauen, nicht irren, muß man sagen, daß die Einschätzung, die Aufdeckung solcher Praktiken könne nur hehren Interessen dienen, daraus nicht folgt. Man konsultiere dazu Nietzsche, die „Antithese ist die enge Pforte, durch welche sich am liebsten der Irrthum zur Wahrheit schleicht.” Haben also die USA die Wahrheit verdreht, so ist doch Snowdens Aufdeckung zu einem Zeitpunkt, da China diese Verhandlungsmasse beim Gespräch über Zensur und Spionage sehr willkommen ist, nicht zwingend im Dienste der Freiheit oder der Menschenrechte geschehen – ein Zyniker mag angesichts der geschwächten Position der USA sogar sagen, daß das Gegenteil der Fall ist.
7. ist schließlich zu sagen, daß die Geheimdienste selbst ein Skandal sind, nämlich einer der Aufklärung. Wissen und Bildung, so versprach man sich, würden Menschen zu mündigen Bürgern machen, die verantwortlich handeln, Wissen und Bildung würden dies grenzüberschreitend zu tun vermögen; also könnte zwischen den Menschen und den Staaten, die diese Menschen souverän als ihre Staaten, die sie demokratisch beherrschen, konstituieren, kein einen Geheimdienst rechtfertigender „Widerstreit” entstehen, der ja, wenn man von einem bilateralen Konflikt ausgeht, unmöglich ist, „wenn nicht in in einem von beiden, oder in beiden Staaten die Mitglieder sich verbunden haben, ungerecht zu sein.” (Fichte: Schriften zur Revolution) Leider besteht diese Ungerechtigkeit aber immer wieder, wie schon Bias von Priene wußte, hoi pleistoi kakoi. Man könnte aber auch sagen, daß das Gute und das Wahre, nach deren Maßstab eine naive Aufklärung zu handeln gedachte, zumindest perspektivisch seien – und Geheimdienste sich diesem Umstand letztlich immer verdanken, also geradezu naturgemäß tun, was man ihnen ankreidet.
Damit aber ist zu schlechter Letzt ein Skandal, wie fahrlässig unsere Diskurse mit dem Wort Skandal umgehen. Und, daß ihre permanente Ausrufung davon ablenkt, etwas zu ändern: zum Beispiel die Integration derer zu beginnen, deren Ausschließung sie erst zu Feinden der Demokratie machen mag, die bedroht ist, keine mehr zu sein; dies wäre ein würdigerer und vielleicht zudem effektiverer Weg, als beispielsweise die Regierung vor einem Volk zu schützen, das sich nicht mehr von dieser repräsentiert weiß. Denn der NSA-Skandal, der also in Wahrheit ein Konglomerat von Verfehlungen ist, ist zuletzt vor allem auch ein Symptom von etwas, das hier noch kaum angedeutet ist.
[1]cf. James Bamford: »Die NSA hat Zugang zu unseren Gedanken«.
Gespräch mit Robert Levine, übers.v. Piotr Heller. In: Die Zeit, N° 26, 20. Juni 2013, S.4