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# 009
IN AUGENSCHEIN - Gespräche über anonymisierte Texte (# 009) Zu Gast: Brigitte Struzyk
September 2013
Der Fülle des lyrischen Textes steht die besonders hingegebene Lektüre gegenüber. Wie es den Text zu neuen, erleuchtenden Wortverbindungen treiben kann, wenn er sich den Spielen, Zwängen und Anforderungen eines lyrischen Einfalls hingibt, so kann auch die Lektüre durch Beschränkung in neue Richtungen wachsen: und an Aufmerksamkeit gewinnen, wenn die Sicherheit gewohnter Fangnetze fehlt. In dieses Wagnis will sich die Reihe Augenschein begeben, indem sie im Gespräch mit Lyrikern über Lyrik Namen und Titel verdeckt. Der blinde Fleck über dem Namenszug der Autoren soll einen freieren Blick auf das erlauben, was die Signatur ihrer Texte ausmacht. Da geht es um Stile, mehr als um Inhalte; gerade deshalb geht es um Beobachtungen und nicht um Wertungen. Kein Quiz, sondern ein Spiel, dessen Regeln sich im Moment erst formen. Nur das Material ist gegeben und älter als wir. Wir bleiben familiär, wir wollen spazieren, die Augen, Ohren und Hirne weit aufsperren. Deutlichkeit und Lösung können dabei selbstverständlich nicht in unserem Interesse liegen.
Brigitte Struzyk, 1946 in Steinbach-Hallenberg geboren, konnte im Laufe ihrer Karriere bereits die unterschiedlichsten Blickwinkel auf Texte einnehmen: Als Dramaturgin und Regieassistentin in Zwickau, Görlitz und Zittau, als Lektorin im Aufbau-Verlag, als Gründungsmitglied der Gruppe 46 in Berlin. Seit 1991 ist sie Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland. Für ihr schriftstellerisches Werk wurde Brigitte Struzyk vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Lion-Feuchtwanger-Preis und der Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung, sie war Stipendiatin des Internationalen Künstlerhauses Villa Concordia und des Künstlerhauses Edenkoben, sowie Stadtschreiberin zu Rheinsberg.
Wird ein Gedicht, dessen Autor unbekannt ist, mündlicher oder schriftlicher? Nähert sich dieses Experiment dem Erzähler im Kreis seiner Zuhörer, der gar nicht nachdrücklich Anspruch auf eine Autorschaft macht, oder geht der Text völlig in der körperlosen Schriftlichkeit auf?
Gerade bei Gedichten kommt es sehr darauf an, wo man mit seiner Arbeit ansetzt. Ziel ist zuviel gesagt - aber die Richtung, in die es bei mir geht, ist die Vorstellung, dass es tatsächlich einen Text gibt, an dem wir alle weben. Der in der Luft ist. Durch die eigene Existenz und durch das, was man weiß, nimmt man sich seinen Teil davon und gibt ihn dann wieder zurück. Wenn er von anderen Menschen aufgenommen und weitergeschrieben wird, dann summiert sich das auf - auch wenn es nur eine kleine Minderheit gibt, die lyrisch webt.
Wie ein Kontakt zum gleichen Faden, der eine Vibration spürbar werden lässt?
Genau, und der nächste macht weiter. Das ist der Witz. Wenn ich einen richtig guten Gedichtband habe, geht es mir immer so, dass ich nach der Lektüre zu schreiben anfange. Das regt mich an, inspiriert mich, gibt Schub. Der gelesene Text weckt wieder die Lust, am großen Gewebe mitzumachen. Insofern ist der Text, wie er jetzt von seinem Autor abgekoppelt ist, in einer komfortableren Lage und kann als Teil dieses Ganzen erscheinen. Er ist nicht so vereinzelt, wenn er keinen Namen angehängt bekommt. Es ist für den Leser leichter, seinen eigenen Faden herauszuziehen. Als Gewebe zu neuem Gewebe anzuregen, ist eine große Leistung eines Textes. "Leistung" ist vielleicht das falsche Wort dafür, aber es hat eben auch etwas sportliches. Beim Sport ist die nächste Geschwindigkeit, die nächste übersprungene Höhe nur möglich, weil sie schon einmal vollbracht worden ist. Das ist der Reiz, noch eins draufzulegen. Das ist auch der Reiz beim Schreiben.
Es geht also um Nacheifern und Wetteifern, eine kämpferische Symbiose, oder wie man früher sagte: imitatio und aemulatio?
Ja, aber ich glaube auch, dass man auch ohne Anregung, ohne imitatio anfangen kann, zu schreiben. Das ist dann, wie ich glaube, das Ergebnis einer Spaltung. Jeder, der sich im direkten Gespräch nicht zu äußern wagt, schreibt eher. Der schreibt auch, ohne zu lesen. Man sieht oft genug Menschen sitzen und schreiben. Sie schreiben sich selbst etwas. Man kann ihnen ansehen, wie beschäftigt sie sind. Andererseits ist mir oft aufgefallen, dass ein Schreibender, irgendwo, etwa in der Straßenbahn, selbstvergessen, ganz merkwürdig beobachtet wird. Der Schreibende hat offenbar etwas Unheimliches. Das würde mich sehr interessieren, was da in den Köpfen losgeht. Ich könnte mir vorstellen, dass der Beobachter mutmaßt, dass der Schreibende bei ihm abschreibt, etwas von ihm wegnimmt.
Selbstvergessenheit und auch Selbstgenügsamkeit. Lesen und Schreiben entfernen sich sehr entschieden aus dem Gespräch, kapseln sich ab, weil ein anderer Zugang zur Zeit und zum Gespräch entsteht.
Auf jeden Fall. Das ist ja das Wunderbare. Wenn man in einer elend langen Schlange steht und ein gutes Buch dabei hat, dann ist es völlig egal, wann man drankommt. Man kann lesen und sich in eine völlig andere Welt versetzen, während ringsum das Gefluche losgeht. Ohne Buch würde man ebenso fluchen. Das ist schon toll.
Sobald man am Gewebe beteiligt ist, kann es keine Langeweile mehr geben.
Nein, das ist nicht mehr möglich.
I.
Wir schmissen Schwerter, aus Schlamm
gegen die Türen des Postbusses nach Tölz,
unsere unendlich unverständliche Sprache.
Deutlichste Erinnerung: in einer Wasserlache
auf dem Bolzplatz im Schaftlacher Gehölz
mein selbstgesägter Laubholzkamm.
Die Schönschreibhefte, für bessere Tage,
wird keiner von uns je wieder lesen.
Ich weiß, warum ich manchmal sage,
unverbesserlich bin ich gewesen.
Es geht sofort los. Ich steige ein, ganz simpel über die Wörter, und gehe mit, weil mir die Alliteration des Beginns nicht als an den Haaren herbei gezogen erscheint, sondern als eine Naturgeschichte. Das herrscht Kohärenz, das eine Wort gibt das andere und muss nicht gesucht werden. Ich glaube, die erste Zeile hat immer besonders viel Gewicht. Wie auch die letzte, sowieso. Und was dazwischen liegt ist auch interessant. (lacht) Ein Reiz dieses Textes ist, dass er redlich ist, alles ist redlich erzählt. Es gibt eine Ortsangabe, ganz deutlich, aber als unendlich unverständliche Sprache werden die wunderbaren Schwerter aus Schlamm übersetzt. auf dem Bolzplatz im Schaftlacher Gehölz : Damit bin ich immer zu kriegen, wenn jemand Schaftlacher Gehölz sagt.Das ist ganz genau verortet, es wird darauf hingewiesen, dass wir uns in ganz konkreten Räumen bewegen, auch gedanklich. Und es ist einfach ein schönes Wort. Wenn das Gehölz tatsächlich so heißt, umso schöner. Ich glaube übrigens, dass das ein Mann geschrieben hat, schlicht und ergreifend wegen der Schwerter. Als weibliches Spielzeug möglich, aber eher ungewöhnlich.
Es wird blitzartig eine Kindheitsassoziation ausgelöst in diesem Gedicht.
Natürlich, das ist ein Kindheitsgedicht. Schönschreibhefte. Das soll ja nun ganz abgeschafft werden. Und man erfährt auch sehr viel sehr genau. Ein selbstgesägter Laubholzkamm, das ist eine starke Gabe. Das muss ein sehr sehr fingerfertiger Junge gewesen sein, der sich selbst solch einen Kamm sägt. Das Detail interessiert mich, weil mit dieser Gabe auch die Person auftaucht. Sie hat noch etwas von diesem Kamm in sich, eine Qualifikation, die auch noch in dem, was er jetzt macht, spürbar wird. Die Person ist genau und auch das Gedicht ist genau. Die einzige Schwachstelle in meinen Augen sind die Schönschreibhefte, die niemand mehr lesen wird. Schönschreibhefte ist hier ein wunderbares Wort, es gibt eine ganze Kulturgeschichte, eine Alterangabe, alles ist da drin. Aber wieso diese Anklang von Klage, wird keiner von uns je wieder lesen? Schönschreibhefte liest man sowieso nicht mehr. Was da an Vergeblichkeit beschrieben werden soll, ist mit dem Begriff nicht gut gepaart. Der Autor evoziert eine Sehnsucht nach etwas, das eingelöst werden müsste, aber leider kommt es nicht dazu. Es erledigt sich vielmehr von selbst. Die letzten Verse hingegen bringen eine sehr schöne Schlusswirkung. Das Gedicht macht mich aufmerksam auf jemanden, gespannt. Formal wirkt es kompakt, eindeutig ein Gedicht, rhythmisch. Die Frage ist ja immer, ob die Form wirklich nötig ist. Ist es Erzählung oder ist die Gedichtform tatsächlich unumgänglich? In diesem Text konstituiert sich das als eine Mosaiktechnik. Kleine Steinchen werden ins Wasser geworfen und eine kleine Welle setzt sich in Bewegung - das ist meiner Meinung nach eine poetische Methode. Die Steinchen werden so verteilt ins Wasser geworfen, dass etwas entsteht, etwas hinzukommt. Bei einem glatt erzählten Text hingegen genügt meistens das, was da steht.
II.
münchen-schwabing im winter 2004 z.b., die augen zu, das
gelände abtasten. zu wenig wissen übers triebtier, instinktiv
innenleben, im visier. das interieur ausleuchten. erhöh die
pixelzahl, schraub das tempo runter, schau genau hin. was
hier durchblitzt: ist das der takt des tags, nur noch folge von
räumen, der raffer, sichtlich in serie gegangen. nimm maß.
hinten links, ist das der motor, innerer schweinehund, spul
noch mal. das gerät hat so seine macken. dein kollege lacht.
macht dir beine, du musst gehn. dann überm gang, bedächtig,
hängt kaffeegeruch aus einer halb geöffneten tür, "die wir uns
als durchgang dachten", hatte wer noch mal gesagt, kein plan,
"einfach hier geradeaus und dann rechts". kein gelände für
instinktdinge, hing zum hals raus. zeig her die zunge. meinte
dein gefühl anderes, benutzte andere worte z.b., hörte andere
stimmen. prekäres gebiet, fremde distinktion. "sie befinden
sich hier mitten auf dem marienplatz", "kein durchkommen
mehr", "bayerischer wald, unweit des schwabinger dschungels
- aber so unweit auch wieder nicht". danke, das reicht. gehört
anderen sichtweisen an, oder -weiten, oder was genau, wirst
nicht schlau draus, was triebtier, nein, -ding. nur dringlicher.
Sehr schöne, gleiche Blöcke, streng fünf mal vier. Sehr bestimmt in seinem Umriss. Im Vergleich zum ersten Gedicht kann ich ganz klar sagen (dazu braucht's nicht viel), dass dieser Mensch jünger ist als der erste. Die Erinnerung des ersten Gedichtes war schon ein Weilchen her. Allerdings bemerke ich in letzter Zeit, dass auch bei jungen Schreibern Kindheitserinnerungen eine große Rolle spielen und sie so erzählt werden, als würden Großväter sprechen. Dieses Gedicht ist sehr gegenwärtig, intern auf 2004 datiert. Es wird nicht "ich" gesagt, aber das Ich ist da, es ist in der Art und Weise des Sehens. Der Text entfaltet eine Versuchsanordnung, alle Schritte haben den Charakter einer geplanten Versuchs. Es geht in dem Gedicht zwar oftmals einiges durcheinander, aber immer in der Art, wie die Dinge im Leben eben auch durcheinander gehen. Mit dem triebtier wendet sich der Text ins Innere: Bin ich hierfür überhaupt bereit? Kann ich das eigentlich verstehen, was hier los ist? Instinktiv innenleben, im visier, diese schöne Folge fällt wie eine Antwort darauf. Es fällt nicht sofort ins Auge, dass es auch hier um gewählte Worte geht, aber dahinter steckt sicherlich Methode. Auf den ersten Blick wirkt der Text sehr strömend und schnell, aber die Orientierung des Ich ist suchend, langsam. Die Gebrauchsanweisung für die Lektüre dieser Eigenart ist im Text enthalten: erhöh die pixelzahl, schraub das tempo runter. Der Text korreliert sich immer mit dem, was im Moment technisch und technologisch läuft. Zur Veränderung eines Tempos wird an Knöpfen gedreht, das macht man nicht mehr anders.
Aber der Blick nach Innen ist immer noch instinktiv, nur nach außen vermittelt die Maschine.
Und immer noch ist ein kritischer Geist da, der durchblicken will. Das ist nicht ganz leicht. Es geht immer hin und her, und so entsteht etwas Dialogisches, obwohl sogar das Ich fehlt. Das ist die Methode, das Ich die Versuchsperson, die hindurchmarschiert. Die Mischung aus Sprichwörtlichem, Eingelöstem und Nochmalsaufgegriffenem ist mir nicht zuviel, der Fluss gefällt mir. Bedächtig. Durch Präteritumformen spielt immer wieder eine Vorgeschichte hinein, hing zum hals raus. Die Zeit wird Teil der Versuchsanordnung. Zu dieser Vorgeschichte scheint auch die Erforschung des Innenlebens, die emphatische Befragung des Menschen zu gehören. Jetzt abgelegt. Ich finde es sehr reizvoll, wie mich das Gedicht zum Innehalten bringt, indem sich Zitate und Vergangenheit langsam und gemeinsam häufen. meinte dein gefühl anderes. Komischerweise werde ich dann mit der konkreten Ortsangabe des Marienplatzes rausgeschmissen aus dem Text. Bis zu diesem Punkt habe ich mir als Leser eine Welt ausgedacht, in der jemand Gänge hinunter geht. Diese Orte und Gangarten muss ich nun plötzlich verlassen, das ist es nicht mehr. Das kann natürlich auch heißen, dass ich über das nachdenken muss, was ich mir vorher gedacht habe. Es gibt mir wie ein Relais die Möglichkeit, in eine andere Richtung zu denken.
Diese Konfrontationen werden am Ende des Gedichtes, wiederum unerwartet, sehr explizit thematisiert.
Auf jeden Fall, am Schluss steht die totale Verunklarung, die in meinen Augen mit den Ortsangaben beginnt. Die konkreten Orte machen alles noch undeutlicher. Was? Wo bin ich jetzt? Wirst nicht schlau draus. (lacht) Ein beunruhigender Text ist das. Das ist eine Qualität. Wenn die Beunruhigung so inszeniert ist, dass ich sie nicht ohne weitres hinnehme, sondern aufmerksam und aktiv werden muss. Die Worte erscheinen so zufällig, aber sind doch methodisch an ihren Platz gebaut.
III.
Zeit ist Zeit.
Ist Einheit für Gemütlichkeit.
Wäre Gemütlichkeit
dreitausendsechshundert
Sekunden in Zeit,
für wie viel Gemütlichkeit
bliebe dann Zeit?
Zeit plus Zeit ist mehr Zeit.
Brot plus Zeit ist Brotzeit.
Zeit mal Zeit ist Mahlzeit.
Der Maikäfer dreht
um den Tisch eine Runde,
Du weißt nicht das Jahr,
Du kennst nicht die Stunde.
Die Kastanie im Biergarten blüht,
freue Dich,
Du bist auf erdbebensicherem Gebiet.
Das ist die Wurzel aus Zeit.
Das ist per Saldo – Gemütlichkeit.
Ich war einmal in München im Englischen Garten in einem Biergarten, es war wohl Hochsommer, alles voll besetzt. Die Leute holten sich ihre Maßkrüge, ein leichtes Gesumme, insgesamt eine schöne Atmosphäre. Am Nebentisch saßen vier Bauarbeiter aus Nordrhein-Westfalen und fingen an, irgendwas über gewerkschaftliche Dinge zu disputieren und sich zu streiten, während die Leute um sie herum eindeutig aus Gründen der Gemütlichkeit im Biergarten waren. Plötzlich stand so ein richtiger, deftiger Bayer auf, nahm seinen Krug und schlug ihn richtig dolle auf die Tischplatte und rief: "Harmonie im Biergarten!" (lacht) Das ist das erste, was mir dazu einfällt. (lacht) Dann waren die Bauarbeiter ruhig und haben schließlich mit Genuss ihr Bier getrunken. Das geht ja beim Debattieren gar nicht.
Eine Maß Bier ist nichts Politisches.
Deswegen passt es auch gar nicht zusammen, wenn irgendwelche Politiker einen Maßkrug ins Bild halten. Naja. Zeit ist Zeit. Sagen wir so, der Text erfüllt von außen gesehen alle Anforderungen an ein Gedicht, hat aber in der Lektüre wenig Angriffsfläche, wenig Raum für Mitarbeit. Ich werde nicht eingeladen, sondern bekomme Resultate. Was dann unter dem Strich herauskommt, ist ein bisschen wenig. Die Schulmathematik wird der Lächerlichkeit preisgegeben: Zeit als Einheit für etwas. Was ich schön fand, was sich dann aber im Verlauf des Textes erübrigt, ist diese Kombination von Einheit und Gemütlichkeit. Bei "Einheit" denkt man automatisch an Skalen und Zählbarkeiten, so abgegriffen, dass man nicht mehr hinschauen will, Einheit für Gemütlichkeit ergibt aber einen anderen Sinn, bringt ein neuen Blickwinkel. Die erste Strophe stellt so eine Art Textaufgabe mit Dreisatz in den Raum. Das bleibt zwar in der Methode des Gedichtes, aber diese Textaufgabe hätte ich schon als Schülerin abgelehnt. (lacht) Das ist mir zu schlicht. Aber gleichzeitig schwer lösbar. Die mathematische Rolle des Textes wird bis zum Ende durchgehalten, wenn es dabei auch leicht kalauermäßig wird.
Das ist mit Understatement gesagt.
Dann kommt der Maikäfer, der in der Zwischenzeit so wertvoll geworden ist. Immer wieder hört man Meldungen, die Maikäfer seien verschwunden, und dabei wird oft übersehen, dass sie nur alle vier Jahre kommen. Der Käfer schlendert und flaniert da entlang und löscht die verrechenbare Zeit auf. Dass der Reim Runde/Stunde so gezwungen klingen muss, ist wiederum schade. An dieser Stelle wird deutlich, dass es ihn oder sie gedichtet hat. Die Kastanien-Strophe hingegen gelingt sehr schön. Der Schluss ist abrupt - aber vielleicht ist das sein Befund, dass die Gemütlichkeit sich einstellt, wenn die Zeit durch Eindrücke weggeschwemmt worden ist.
IV.
das war der golden zittrige staub: auf den wegen
den rainen die kleinen christusschädel gespalten
- auch da unten der süden, die berge, der schatten
hatten ein meer.
wir wollen schnaps brennen gehen, birnen kehren
wieder im kirchgelb, türme tragen zwiebeln. von erde
zu träumen war stoff. großvater s. nahm die hände der frauen
die er fing
ab in gips. über die wiesen den großporigen staub
sprang manche ihm davon. millischeckerl. katzenpratzerl.
was zukam lag händisch im speicher, weiß träumende finger
kaum träumte
er. mächtig beim kloster schimmerten durch den karfiol
die seelen des dorfs. eine sau warf ferkel in allen regenwurmfarben
und schnürlregen verband die oberen und unteren provinzen
bayrisch -
seeland. was rutscht der friedhof am hang und die felder
verdreht ein einfacher laut wie w- w- wetterbleaml den hiasigen
hinnigen, den vierteldenseinen mir kopf was ziehen die wolken über
die geodelten wege
den liebenden staub.
Wieder süddeutsch, wenn nicht gar österreichisch - aber Bayern wird ausdrücklich genannt. Es kommt an vielen Stellen eng an die örtliche Sprache und wird dadurch schwer verständlich, da ist eine fast ethnographische Faszination zu spüren, sehr schön. Erstaunlicherweise stören mich hier die gedoppelten Adjektive, die mich sehr häufig stören, überhaupt nicht. Aber nun zunächst einmal eine ganz formale Sache. Die Dichter sollen sich immer entscheiden, ob sie Satzzeichen setzen oder nicht. Am Beginn fehlen in den Reihungen die Kommata, die weiter unten plötzlich auftauchen. Dadurch kommt man als Leser durcheinander, weil die Frage sich stellt: warum hier und nicht dort? Bin ich aufgefordert es anders zu verstehen? Aber das erschließt sich mir nicht. Abgesehen von dieser Kleinigkeit hat das Gedicht sehr viele, unglaubliche schöne Stellen, die schwer zu erklären, aber anziehend sind. da unten der süden, die berge, der schatten hatten ein meer. Das kommt auch aus einer gewissen Verstörung. Man befindet sich oben, irgendwo in den Alpen. Das Summieren, dass Süden, Berge und Schatten jeweils ein eigenes Meer haben, das ist eine Zuwendung zu jeder Materie, die aufgezählt wird, die mich richtig rührt. Das ist eine ganz starke Stelle. Da würde ich ein Ausrufezeichen in mein Buch malen: Poesie! Die schwer zu erklären ist, aber fraglos da. Auch die nächsten Bilder mit dem Schnaps, den Birnen, den Kirchtürmen, wunderbar. Ich würde zuallererst einmal dem Autor oder der Autorin eine Art Naturtalent bescheinigen, im Sinne von: so wie er zu den Worten kommt, ist schon etwas in ihm vorgegangen, und der Griff zu den Worten ist zielsicher. Das ist natürlich alles Spekulation, aber ich könnte mir vorstellen, dass bei diesem Menschen der Konflikt zwischen Sprechen und Schreiben nicht groß ist, dass der möglicherweise auch so spricht. An dieser Stelle zum Beispiel: eine sau warf ferkel in allen regenwurmfarben. Natürlich denkt jeder sofort an Regenbogenfarben. Aber das großartige ist, dass es tatsächlich so ist, dass ein Regenwurm tatsächlich verschiedene Farben hat. Das kommt alles aus der Anschauung, der Autor weiß, wie es im Stall nach einem Wurf aussieht. Die Beschreibung ist also nicht nur sachlich richtig, sondern bringt im Leser den Resonanzraum des Regenbogens zum Schwingen. Dieses Gedicht ist geschaffen und einfach da - und dennoch gibt es das, wovon die Rede ist. Der rutschende Friedhof am Hang - was für ein Bild! Da ist noch eine enthaltene Frage, nach dem warum. Das wird erst wieder festgemacht mit den Blumen, die den Hang, die Landschaft halten. über
die geodelten wege den liebenden staub.Ein klasse Gedicht, dazu möchte ich gar nichts mehr sagen. Es ist rhythmisch, klanglich, es greift. Was ich hier geboten bekomme als jemand, der nicht in dieser Landschaft steht, ist wunderbar.
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