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Essay
Chinesische Gegenwartslyrik
Wenn in Chinas Schulen Lyrik besprochen wird, sind es meist traditionelle Gedichte aus der Tang- (618 – 907 n. Chr.) und der Song-Dynastie (960 – 1279 n. Chr.). Dabei hätte die chinesische Gegenwartslyrik durchaus Beachtung verdient, hat sie doch in den letzten Jahren einen deutlichen Aufschwung genommen. So viel Lyrikbände und Anthologien wie selten zuvor sind im vergangenen Jahrzehnt veröffentlicht worden. Wer hier allerdings spektakuläre Zahlen angesichts eines 1,35 Milliarden-Volkes erwartet, sieht sich schnell enttäuscht. 80% der Chinesen sind Bauern, die meisten wohnen weit weg von den boomenden Städten. Vom Wirtschaftsaufschwung, der spürbaren Öffnung und dem Bildungshunger bekommen allenfalls einige ihrer Kinder etwas mit. 1000 Lyrikanthologien mit jeweils ein paartausend verkauften Exemplaren, das sind auch für China respektable Zahlen. Übrigens nicht nur für Lyrikbände.
Das gewachsene Interesse an der Gegenwartslyrik rührt zum Teil daher, dass sie den Lesern weit entgegenkommt, hat sie sich von traditionellen Formen und Inhalten gelöst und den Alltag in ihren Gedichten entdeckt hat, so dass sich der Leser in ihnen wiederfindet.
Chinas Lyrik der letzten Jahrzehnte kann man grob in drei Etappen einteilen. Bis zur „Neue-Literatur-Bewegung“, die sich im Mai 1919 formierte, war die chinesische Lyrik formal und inhaltlich streng festgeschrieben. Beispiel ist hier die chinesische Reimform „Ch`e“ (auch „Tz´i“). Sie besteht aus zwei vierversigen Strophen mit vorgeschriebenem Reimschema, je Vers sieben Silben (ersatzweise auch Wörter), mit Bruch jeweils nach der vierten Silbe. Geschrieben in hohem Tonfall und festgelegter Metaphorik (etwa der gelbe Fluss als Bild für die Mutter). Danach begannen sich die chinesischer Lyriker der Umgangssprache zu nähern und suchten nach neuen Metaphern, die dem Alltag der Menschen entnommen und folglich zeitaktuell waren. Unter den ausländischen Autoren waren Whitman oder Tagore Vorbild.
Ein weiteres Fortschreiten in diese Richtung erfolgte dann in den 50er Jahren in der Phase der „patriotisch-politischen Lyrik“, wie manche Chinesen diese Richtung nennen. Dichterkreise wie „Juli“ oder „Neun Blätter“ spielten eine wichtige Rolle. Der Sprachrhythmus wurde noch fließender, so dass Emotionen stärker zum Ausdruck gebracht werden konnten. Dichter wie Ai Qing, Zang Ke-Jia, He Qi-Fang oder Tian Jian traten hervor. Insbesondere Ai Qing (Jahrgang 1910) hat der Gegenwartslyrik viele ästhetische Impulse gegeben, er zählt zu den wichtigsten chinesischen Lyrikern. Bei einem Besuch in Deutschland 1979 schrieb er u.a. ein Gedicht über das Geburtshaus von Karl Marx und eines über die Mauer in Berlin, die Ai Qing in bewegenden Bildern kritisierte:
„… wie könnte sie
die Flüge der Vögel und den Gesang der Nachtigall verhindern?
Wie könnte sie
das fließende Wasser und die Luft aufhalten?
Wie könnte sie
die Gedanken von Hunderttausenden
freier als der Wind
ihren Willen fester als das Land
ihre Wünsche dauerhafter als die Zeit verhindern?“
Schon diese Dichter hatten mit Verfolgung zu kämpfen. Gong Liu (Jg. 1927) zum Beispiel, der ein wunderschönes Vater-Gedicht schrieb, seinen Vater und alle Väter meinend, ein Gedicht, in dem er den unermüdlichen Fleiß der Väter beschreibt, die doch in der langen Geschichte Chinas stets um den Lohn ihrer Arbeit gebracht wurden, wurde in den 50er Jahren als „rechtes Element“ verurteilt, in den 80er Jahren aber rehabilitiert und begann dann wieder zu schreiben. Genauso erging es Liu Shahe (Jg. 1931) und Shao Yanxiang (Jg. 1933), die in ihren Anfangsjahren mutig einen subjektiv-ehrlichen Ton gegen die vorherrschende Lob- und Preislyrik der fünfziger und sechziger Jahre setzten, die dafür verfolgt wurden und erst nach ihrer Rehabilitierung (stets Anfang der achtziger Jahre) ihre literarische Arbeit wieder aufnehmen konnten. Sie zeigten Mut und Konsequenz, die Respekt abnötigen.
Insgesamt kann man den Trend der chinesischen Lyrik als Entwicklung zu immer mehr Subjektivität im Inhalt, zu immer stärkerer Anknüpfung an die Umgangssprache im Formalen bewerten. Die letzte der drei Etappen wird Monlonliteratur genannt. Monlon bedeutet „verschwommen“. Es wird also bewusst auf das Vage, Nicht-Eindeutige, auf das Andeutende gesetzt, auf starke Subjektivität also. Sie ist ganz sicher eine Reaktion auf die zerstörerische Kulturrevolution, auf den politischen Druck und hatte ihren Ursprung in der sogenannten „Schubladenliteratur“, die während der Kulturrevolution geschrieben, aber erst nach ihrem Ende und vor allem nach Maos Tod 1976 veröffentlicht werden durfte.
Mühsam mussten sich Chinas Schriftsteller danach den Anschluss an die Moderne erarbeiteten, ganz, urteilte der Bonner Sinologe Alfred Kubin in einem Vortrag vor gut zwei Jahren in Shanghai, sei ihr das bis heute nicht gelungen. Die chinesische Literatur sei immer noch sinozentristisch, urteilte er. Chinas Schriftsteller, unter anderem der stellvertretende Vorsitzende des Schriftstellerverbands Chen Zhong Shi, dessen berühmten Roman „Bai Lu Yuan“, in dem er am Beispiel eines Dorfes Chinas jüngste Geschichte erzählt, jeder Chinese kennt, zeigten Betroffenheit. Kubin hatte etwas angesprochen, das auch Chen Zhong Shi sehr zu denken gab. Es ist eine Lücke, die teilweise den Autoren, zum großen Teil aber den politischen Umständen anzulasten ist.