Chinesische Gegenwartslyrik

Aufsatz

Autor:
Heinrich Peuckmann
 

Essay

Chinesische Gegenwartslyrik

Bei Dao (Jg. 1949), Gu Cheng (Jg. 1956), Shu Ting (Jg. 1952) und Jiang He (d.i. Yu Youze, Jg. 1949) sind wichtige Namen dieser Richtung. Diese Lyrik hat im heutigen China, das sich vergleichsweise weit geöffnet hat, auch offizielle Anerkennung gefunden. Gu Cheng und Shu Ting beispielsweise bekamen für ihre Lyrikbände Preise des Schriftstellerverbands.
Von allen ist in Deutschland vermutlich Bei Dao der bekannsteste. Von ihm daher der Auszug aus einem Gedicht:

Der Akkord

Der Wald und ich
umkreisen eng den kleinen See
Die Hand ins Wasser getaucht
stört der Möwe tief sinnende Augen
Der Wald einsam und allein
Das Meer weit entfernt

Ich gehe auf die Straße
Der Lärm wird zurückgehalten hinter dem Rot
Der Schatten breitet sich
fächerartig aus
Die Fußstapfen schief und schräg
Die Verkehrsinsel einsam und allein
Das Meer weit entfernt  …

Zwischen bundesdeutschen Schriftstellern und jüngeren Vertretern der Monlonliteratur gab es 1993 in Xi´an eine hochinteressante Begegnung. Über den Hintereingang kamen die chinesischen Schriftsteller ins Hotel, es war ein kalter Wintertag, sie trugen zwei Hosen übereinander, wie es manche Chinesen damals im Winter machten, weil sie zu Hause nicht genügend heizen konnten. Shen Qi, Lyriker und Hochschullehrer, Yi Sha, ein etwas dicklicher junger Mann, Chefredakteur einer Hochschulzeitung und als avantgardistischer Schriftsteller in der Provinz Shaanxi durchaus bekannt (s. Foto), dazu der junge Lyriker Jiang Tao suchten das Gespräch mit den deutschen Kollegen. Während Tee getrunken wurde, erzählten sie, dass sie die Untergrundzeitung “Genesis“ herausgaben, die von Auslandschinesen finanziert wurde, aber nicht offiziell zu kaufen war, sondern an Abonnenten per Post verschickt wurde. Um ihre Zeitschrift weiter zu tarnen, setzten sie ein Covergirl auf das Umschlagbild, so dass man nicht gleich merken konnte, dass es sich um eine Zeitschrift mit zeitkritischen Monlon-Gedichten handelte.

Sie betonten all die oben beschriebenen Elemente, die die neue chinesische Lyrik auszeichneten wie die Abkehr von formaler Strenge und die Annäherung an die Alltagssprache. Damals waren sie gerade dabei, die europäische Literatur des Absurden wie etwa Beckett für sich zu entdecken, und die bundesdeutschen Autoren spürten, wie weit sie von den herrschenden Strömungen entfernt waren. Sie selbst spürten das auch, baten um Verständnis und erzählten, dass sie deshalb, um die Lücken schneller aufarbeiten zu können, in Gruppen zusammenarbeiteten. Dort könnten sie durch Austausch schneller lernen. Gerne würden sie sich auch zu gemeinsamen Spaziergängen verabreden, weil sie dabei am ungestörtesten (gemeint war wohl auch am sichersten) miteinander reden konnten. Sie legten weniger Wert darauf, gedruckt zu werden, sondern wollten über Lesungen ihre Literatur verbreiten, um so eine direkte Wirkung zu erzielen.

Zum Schluss las Yi Sha zwei seiner Gedichte vor, eines, bei dem er beim Vorlesen stottern musste, eine krasse Anlehnung an die gesprochene Sprache, ein weiteres, in dem der Gelbe Fluss auftauchte, in der alten chinesischen Lyrik das Bild für die Mutter. Bei Yi Sha aber war das anders, denn er schilderte eine Zugfahrt und gerade in jenem Moment, als der Zug die Brücke über den Gelben Fluss befährt, muss das lyrische Ich zur Toilette und pinkeln. Drastischer konnte er sich nicht von der alten Metaphorik und ihrem Pathos absetzen.

Ob sich die drei durchgesetzt haben? Ob sie inzwischen mehr Wert auf Buchveröffentlichungen legen? Ihre Spuren haben sich verloren, was nichts zu bedeuten hat, China ist ein riesiges Land. Deshalb sind all die genannten Autorennamen, die die jeweiligen Trends repräsentieren, mit einem gewissen Vorbehalt zu sehen. Bei der Fülle an chinesischen Lyrikern muss jede Aufzählung unbefriedigend bleiben.


China - Poetry International Web

Gedichte von Yi Sha



Originalbeitrag
 

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