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Prosa
Traumsequenz
Es hat einen fast schon romantisierenden Charakter, sich vorzustellen, wie es einem tapferen Mönch im Reich der Osmanen ergangen sein mag, einem Mann des 16. Jahrhunderts, der versucht, sich allen Gewalten zum Trotz zu erhalten. Ja, es hat einen gewissen Reiz, sich auszumalen, wie es jemandem am Bosporus erging, der mit allen Fasern seines Wesens darum bemüht ist, seine Identität zu wahren und seine Ideale, genauer gesagt, sein Ziel, den Protest wider Papst- und Pfaffentum, gegen alle Feindseligkeiten durchzusetzen. Und daher sei es einen Moment lang erlaubt, im surrealen Konjunktiv der Phantasie darüber nachzudenken, wie ein Mensch, der auf seine einflussreichen Freunde hofft, auf seine Anhänger baut – wie also Martin Luther in der braunen Mönchskutte in den Gärten des Serails seinen Frieden fände, indem er nicht nur das Fasih-Türkçe der hohen Poesie, gemeinsam mit dem um nur etwa ein Jahrzehnt jüngeren Fuzuli deklamierte, sondern auch – in Audienzen mit den Würdenträgern des damaligen Osmanischen Reichs – Orta-Türkçe parlierte und sich ab und zu aus den Mauern der Palastanlage stehlen würde, um auf den Märkten im Kaba-Türkçe um goldgelbe Aprikosen oder Auberginen zu feilschen, um Früchte, genauer gesagt, um ein Gemüse, das er dort erst kennen gelernt hätte – bevor er Fuzuli in die Verbannung gefolgt wäre.
Ja, Luther hätte beschlossen, ihn zu begleiten. Beide dürften gelitten haben, an der Engstirnigkeit, der Kleinlichkeit der unteren hierarchischen Ebenen, der Schergen und Wachleute, der Laffen und Pfaffen, gleichgültig welcher Denomination. Ihr Asyl hätten sie in der gemeinsamen Sprache der Dichtkunst gefunden und sich mit Vergnügen auf Platon berufen, auf den – außerhalb aller Heiligen Schriften – immer Verlass ist.
Lange Gespräche hätten sie auf ihrer Wanderung gen Südosten geführt, und Fuzuli wunderte sich, was denn diesen seltsamen Klosterbruder aus dem Norden so sehr bewegte. Vor allem hätte Bruder Martin ihm erzählt, er habe dem Zölibat entkommen wollen.
Was denn dies sei, hätte Fuzuli erstaunt gefragt. Er wusste es nicht, und der braun gewandete Klosterbruder aus dem fernen Land der Franken, der bei den Osmanen Asyl vor seinen Feinden gefunden hatte, wollte nicht mit der Sprache heraus. Er wirkte verschämt. Fuzuli war gerührt, dass Luther ihn, den Verbannten, begleitete, denn alle seine Freunde hatten sich von ihm abgewandt, als er im Palast in Ungnade gefallen war. Hatte der Sultan, Herr über das Land und sieben Meere, dem Mann von der Wartburg nicht einen grandiosen Auftrag erteilt -? Einen Vergleich zwischen dem Koran und der Bibel? Hatte Luther nicht gleich damit begonnen? Hatte er im Top Kap? Serail nicht eine Unmenge von Skizzen, Notizen und Papieren zurückgelassen? Was trieb diesen Mann um? Und vor allem, was bedeutete nur dieses Wort – „Zölibat“ –, das sich kaum aussprechen ließ. Im Übrigen hatte die Liebe zu seinem Land Bruder Martin auch ein wenig depressiv werden lassen. Nach zehn, zwanzig Jahren in Stambul hatte er vor lauter Kummer, vor lauter Heimweh Fett angesetzt, Kummerspeck, wie er sagte, und trauerte den Verhältnissen in Thüringen nach.
In Kappadokien, der Landschaft der Feenkamine, hätte – wer weiß? – vielleicht Ahasver, der ewige Jude, sich zu ihnen gesellt, wie er leibt und lebt, dem Roman von Stephan Heym (4) entsprungen. Zu dritt wären sie, wandernd und gestikulierend, rasch auf die Philosophie Platons zu sprechen gekommen – und auf den Zweifel an allem Bestehenden. Ahasver allerdings hatte es eilig, wie immer, wollte er in selbiger Nacht doch noch bis Damaskus, wenn nicht bis Jerusalem kommen.
„Gemach, gemach“, meinte Fuzuli, „lass uns zuerst einmal gemeinsam überlegen, wie diesen Thüringern zu helfen sei …“
Wie meist hörte Ahasver nur mit einem Ohr hin, verstand: „Türken“ und meinte, er begreife nicht, warum die Osmanen klagten – seien sie doch auf der Höhe der Zeit.
„Nein, nein“, sagte Bruder Martin, „es geht um den Norden, um den Thüringer Wald. Und den Papst – in Rom …“
Fuzuli verstand ihn auf Anhieb, wollte jedoch zuallererst einmal wissen, was es denn mit dem seltsamen Begriff „Zölibat“ auf sich habe. Ahasver nahm sich nun Zeit, lehnte sich bequem zurück und erläuterte, kompetent in allen Fragen zwischen Okzident und Orient, was die Christen unter Askese verstünden.
1) Martin Luther lebte von 1483 bis 1546
2) Regierungszeit Süleymans I.: 1520 - 1566
3) Der Dichter Fuzuli, der aus dem mythischen Stoff von Leylâ und Mecnun ein Epoche machendes Werk im osmanischen Türkisch gestaltet hat, wurde vermutlich 1495 geboren und starb 1556 in der Verbannung. In der Bearbeitung von Oskar Rescher (Re?er) und Necati Lugal liegt „Leyla ve Mecnun“ auf Deutsch als Neudruck der Ausgabe von Istanbul 1943 vor: Osnabrück 1979.
4) Stephan Heym (1913 – 2001): Ahasver. Roman. München 1981
Ja, Luther hätte beschlossen, ihn zu begleiten. Beide dürften gelitten haben, an der Engstirnigkeit, der Kleinlichkeit der unteren hierarchischen Ebenen, der Schergen und Wachleute, der Laffen und Pfaffen, gleichgültig welcher Denomination. Ihr Asyl hätten sie in der gemeinsamen Sprache der Dichtkunst gefunden und sich mit Vergnügen auf Platon berufen, auf den – außerhalb aller Heiligen Schriften – immer Verlass ist.
Lange Gespräche hätten sie auf ihrer Wanderung gen Südosten geführt, und Fuzuli wunderte sich, was denn diesen seltsamen Klosterbruder aus dem Norden so sehr bewegte. Vor allem hätte Bruder Martin ihm erzählt, er habe dem Zölibat entkommen wollen.
Was denn dies sei, hätte Fuzuli erstaunt gefragt. Er wusste es nicht, und der braun gewandete Klosterbruder aus dem fernen Land der Franken, der bei den Osmanen Asyl vor seinen Feinden gefunden hatte, wollte nicht mit der Sprache heraus. Er wirkte verschämt. Fuzuli war gerührt, dass Luther ihn, den Verbannten, begleitete, denn alle seine Freunde hatten sich von ihm abgewandt, als er im Palast in Ungnade gefallen war. Hatte der Sultan, Herr über das Land und sieben Meere, dem Mann von der Wartburg nicht einen grandiosen Auftrag erteilt -? Einen Vergleich zwischen dem Koran und der Bibel? Hatte Luther nicht gleich damit begonnen? Hatte er im Top Kap? Serail nicht eine Unmenge von Skizzen, Notizen und Papieren zurückgelassen? Was trieb diesen Mann um? Und vor allem, was bedeutete nur dieses Wort – „Zölibat“ –, das sich kaum aussprechen ließ. Im Übrigen hatte die Liebe zu seinem Land Bruder Martin auch ein wenig depressiv werden lassen. Nach zehn, zwanzig Jahren in Stambul hatte er vor lauter Kummer, vor lauter Heimweh Fett angesetzt, Kummerspeck, wie er sagte, und trauerte den Verhältnissen in Thüringen nach.
In Kappadokien, der Landschaft der Feenkamine, hätte – wer weiß? – vielleicht Ahasver, der ewige Jude, sich zu ihnen gesellt, wie er leibt und lebt, dem Roman von Stephan Heym (4) entsprungen. Zu dritt wären sie, wandernd und gestikulierend, rasch auf die Philosophie Platons zu sprechen gekommen – und auf den Zweifel an allem Bestehenden. Ahasver allerdings hatte es eilig, wie immer, wollte er in selbiger Nacht doch noch bis Damaskus, wenn nicht bis Jerusalem kommen.
„Gemach, gemach“, meinte Fuzuli, „lass uns zuerst einmal gemeinsam überlegen, wie diesen Thüringern zu helfen sei …“
Wie meist hörte Ahasver nur mit einem Ohr hin, verstand: „Türken“ und meinte, er begreife nicht, warum die Osmanen klagten – seien sie doch auf der Höhe der Zeit.
„Nein, nein“, sagte Bruder Martin, „es geht um den Norden, um den Thüringer Wald. Und den Papst – in Rom …“
Fuzuli verstand ihn auf Anhieb, wollte jedoch zuallererst einmal wissen, was es denn mit dem seltsamen Begriff „Zölibat“ auf sich habe. Ahasver nahm sich nun Zeit, lehnte sich bequem zurück und erläuterte, kompetent in allen Fragen zwischen Okzident und Orient, was die Christen unter Askese verstünden.
1) Martin Luther lebte von 1483 bis 1546
2) Regierungszeit Süleymans I.: 1520 - 1566
3) Der Dichter Fuzuli, der aus dem mythischen Stoff von Leylâ und Mecnun ein Epoche machendes Werk im osmanischen Türkisch gestaltet hat, wurde vermutlich 1495 geboren und starb 1556 in der Verbannung. In der Bearbeitung von Oskar Rescher (Re?er) und Necati Lugal liegt „Leyla ve Mecnun“ auf Deutsch als Neudruck der Ausgabe von Istanbul 1943 vor: Osnabrück 1979.
4) Stephan Heym (1913 – 2001): Ahasver. Roman. München 1981
Originalbeitrag