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Prosa
Traumsequenz
Was ist Sprache für einen Dichter, für einen türkischen Dichter – einen Dichter der Welt? Was ist Sprache für jemanden, der sein Leben lang in seinem Land bleibt? – Heimat. Die deutsche Sprache war für unglaublich viele Dichter, Denker, Musiker, Künstler, Filmemacher, Schauspieler – und ihre Familien Fluchtpunkt, Nische und Asyl. Nicht nur 1933 bis 1945, sondern seit Jahrhunderten. Seit Martin Luther (1), in Eisenach in einer Kammer der Wartburg versteckt, im Dezember 1521 begann, die ersten Texte des – in einem einfachen Griechisch verfassten – Neuen Testaments zu übersetzen. Er war in Lebensgefahr. Seinen Freunden schrieb er Briefe aus Patmos, einer real existierenden Insel; er aber war in „seinem Patmos“. Sprache war sein Asyl vor den Schergen der Feinde.
Warum Luther? Warum erwähne ich hier und heute ausgerechnet einen der schlimmsten Türkenfeinde des 16. Jahrhunderts? Sein Bild des Osmanischen Reichs basierte auf unterschiedlichen Quellen. Auf Reiseberichten Gelehrter – und eher noch, auf Schauergeschichten des Militärs. Kriege waren, damals wie heute, kein Kinderspiel.
Und wenn ausgerechnet von Martin Luther die mörderischsten Sentenzen gegen den vermeintlichen Erzfeind stammen, die selbst heute noch von so manchem evangelischen Fundamentalisten genüsslich zitiert werden, so hat dies seinen Grund darin, dass Luther nicht nur ein glänzender Stilist, sondern auch rhetorisch hochbegabt war. Und er sagte sich, in Gefahr und größter Not sei der Mittelweg – der Tod. Also träumte er sich in ein imaginäres „Patmos“, um in Ruhe an sein Lebenswerk, die Bibelübersetzung, zu gehen. Mit seiner Verurteilung der Türken, Schmähungen gar, verurteilte er Menschen aus einem ihm unbekannten Land in Bausch und Bogen. Überzeugt und überzeugend, da er Charisma hatte. Heute wissen wir: Martin Luther argumentierte zeitbedingt.
Hätte Süleyman I., hätte Kanûni, der Gesetzgeber (2), dem Reformator wider Tod und Teufel, der als ehemaliger Mönch eine ehemalige Nonne heiratete, 1521/22 Asyl geboten, hätte Luther gewiss den Perspektivenwechsel gewagt. Er wäre zwar nicht dazu gekommen, auch nur darüber nachzudenken, ob er die bis zu diesem Zeitpunkt nur in der Hochsprache der Gelehrten zugängliche Bibel übersetzen sollte, wäre jedoch mit Feuereifer darangegangen, das im Top Kap? Serail gängige osmanische Türkisch zu lernen, Hoch- wie Alltagssprache, denn er redete mit jedermann. Die arabische Schrift hätte er im Nu gelernt, weil er Fuzuli (3) persönlich begegnet wäre! Und gewiss wäre er den Spuren von Kâ?garl? Mahmud nachgegangen, um mehr über jenen Gelehrten zu erfahren ... Vielleicht, wer weiß, hätte er eine Synopse erstellt – aus Talmud, Bibel und Koran ...
Geschichte lässt sich nicht im Konjunktiv II der Vergangenheit erzählen – und dennoch … Es hat seinen Reiz, sich vorzustellen, wie Bruder Martin, Ende dreißig, in einer Dezembernacht zu Beginn des zweiten Jahrzehnts des 16. Jahrhunderts von der Wartburg aus in der braunen Mönchskutte, die Kapuze über den Kopf gestülpt, im tiefen Schnee einer Reiterbrigade nach der anderen übergeben wird, bis er in Venedig ankommt, dort auf einem Frachtschiff der reichen Handelsmacht Venetia – an Kythera, der Trauminsel aller Seligen vorbei – nach Stambul verschifft wird und dort mit großen Augen über die Märkte wandert, von Brunnen zu Brunnen, von Tor zu Tor, bis Süleyman I., der erst seit Kurzem als Thronfolger, als Sultan der Osmanen residiert, ihn zu sich kommen lässt.
In einer Herberge der venezianischen Kaufleute, einem der schönsten Konaks der ehemals byzantinischen Metropole, hätte Luther geduldig gewartet, bis sich ihm das Eingangstor des Serails geöffnet hätte. Schließlich hätte er dort die lingua franca seiner Zeit, das gute alte Küchenlatein, sprechen können, wäre er doch so manchem Versprengten in den Gassen und auf den Plätzen der Stadt begegnet, so manchem, der sich mit allerlei Künsten von Rom gen Osten durchgeschlagen hätte. Und bei einem guten Glas Wein in einer der griechischen Schenken hätte Bruder Martin mit so manchem in der Sprache des Vatikans parlieren können. Und auch das Griechisch jener Zeit wäre ihm leicht über die Lippen gekommen, kannte er doch die Schriftsprache, zum Beispiel der Briefe des Paulus an die Epheser.
Doch da er gewohnt war, dem Volk aufs Maul zu schauen, wusste er bald ganz genau, wie er – im Türkisch der Marktleute – eine frische Melone oder einen saftigen Pfirsich auf eine bezahlbare Summe herunterhandeln konnte. In einem klaren, deutlichen Türkisch, das er sich spielend aneignete.
Und als es dann soweit war und er nicht nur durch das erste Tor des Serails geführt wurde, sondern direkt vor dem jungen Herrscher der Osmanen erscheinen durfte, wurde er den Hofdichtern vorgestellt, verneigte sich tief – und schwieg. Denn noch kannte er deren Lyrik nicht, die oft aus der Not geboren war, den Herrscher zu preisen. Bruder Martin kannte weder Ghaselen noch Kassiden. Doch er lernte schnell.
Nie dürfte er den Harem betreten haben, sondern wird in klösterlicher Abgeschiedenheit durch die Gärten gewandelt sein, jahrelang, dem Gebot der Askese – nach christlichem Verständnis – treu, mit dem Ziel, sich noch tiefer ins Arabische zu versenken, um Parallelen ausfindig zu machen – zwischen Judentum, Christentum und Islam. Mit dem Studium des Arabischen und Persischen hätte er begonnen und brav zuerst einmal die Schrift geübt, von rechts nach links, anfangs noch ein wenig ungelenk.