Naturgedichte

Essay

Autor:
Christa Wißkirchen
 

Essay

Spinatgrün. Etwas über Naturgedichte

Sie war nicht böse gemeint, die freundschaftlich-kritische Frage, die mir ein Kollege und lyrischer Mittäter beiläufig stellte: Warum unter meinen Sachen so viele Naturgedichte seien? Und er fügte hinzu: Sind nicht die Dinge der Menschen buchstäblich bedeutender, ist die Natur nicht ein von uns gemachtes freundliches Phantom? Warum so viel Energie der Beobachtung von etwas widmen, das uns so fremd ist, daß wir es erst präparieren, mit Eigenem durchtränken müssen, um überhaupt ewas zu fassen zu bekommen?

Verblüfft habe ich nachgesehen und nachgedacht, dann zugestimmt und auch wieder nicht. Hat ein sogenanntes Naturgedicht jemals die Natur zum Gegenstand gehabt? Vielmehr werden doch, und das hat auch der Kollege wiederum zugestanden, darin die Dinge der Menschen verhandelt. Fremd ist das Naturding, ein Phantom, sehr wohl. Aber sind andere Dinge (z.B. Leute) etwa weniger fremd? Wir waren uns schließlich insofern einig, daß es genau genommen gar keine Naturgedichte gibt. Nun gut, aber spätestens als ich ein paar garantiert natur-freie  Gedichte zum Mitschicken aussuchen wollte, fiel mir auf, daß ich die Position dessen, der sich rechtfertigen muß, schon akzeptiert hatte. Was also darf nicht vorkommen, wenn der Stempel "Naturgedicht" oder gar das Schimpfwort "Chlorophylldichtung" vermieden werden soll? Jedenfalls  Feld, Wald und Wiese, auch Wolken und Beleuchtungswerte über unbebautem Gelände, domestizierte Tiere sowie veraltete landwirtschaftliche Geräte, vielleicht auch Flußufer und Meeresstrände. All dies müßte schon sehr erkältet, sehr gesplittert, gebrochen und dreimal durch den ironischen Wolf gedreht sein, damit auch der Letzte merkt: es geht hier nicht um Grünzeug & Co.
Es war ja mal anders. Ich erinnere mich an eine Stelle in Heimito von Doderers "Strudlhofstiege", wo er den Wochenend-Drang, "in die Natur" zu fahren aufs Korn nimmt:

Die "Natur" war nun einmal erfunden worden (...), man blieb dieser Erfindung verpflichtet, die in gar nichts anderem besteht, als daß ein Wort, welches einst "Beschaffenheit" bedeutete (die Alten kannten es in diesem Sinne), nun mit einem vagen, ja schöngeistigen Inhalte erfüllt ist: den man als anständiger Mensch positiv zu werten hat. Das wird auch herausgestellt und sogar kontrolliert, es klopft da einer beim anderen an, in solch ländlichen Umgebungen, indem man einander auf Naturschönheiten aufmerksam macht. Würde jemand sagen, diese spinatgrüne Erhabenheit mugel-auf und mugel-ab sei ihm schon ein Brechmittel: man hielte ihn für einen bösen Menschen.

Dabei ist Doderer einer, der immer wieder mal lässig-souverän und doch mit subtiler Genauigkeit und Liebe Landschafts-Orte sprachlich evoziert. Heutzutage klopft offenbar einer beim andern an, ob er auch aller Naturbeschwörung abgeschworen hat, die nach Benns vernichtenden Urteilen in "Probleme der Lyrik" ja unmöglich geworden scheint.
In einem Artikel zu Peter Huchels hundertstem Geburtstag lobt Heinrich Detering den Autor dafür, daß er, nachdem er den Lockungen der poetischen Evokation einer vor- und gegenmodernen bäuerlichen Welt nicht ganz entgangen sei, sich in einem langjährigen Prozeß davon freigeschrieben habe. Später singe also nicht mehr der Vogel des Frühlings im Holunder, sondern es herrsche eine des unsentimentalen Pathos fähige Lakonie. Von einer klaren, kühlen Luft ist die Rede, die nun durch seine Verse gehe, ein Wind, der von weither kommt und in dem ferne Stimmen zu hören sind. Solche (historisch-) fernen Anklänge halten also einer nicht immer vermiedenen Gefälligkeit die Waage. Ich bin nicht ganz sicher, ob hier eigentlich mehr die stilistische Haltung (Pathos) oder die Wahl der Gegenstände (bäuerliche Welt) kritisiert wird. Mich beschleicht da eine vage Vermutung: Gewiß, wenn Benn über die tausendfach wiederkehrenden Gemütsinhalte der Triviallyrik spottet, so trifft es nicht nur die Naturmotive, sondern auch die Liebe, den Himmel und das Grab. Es ging ihm ja ums Spachkünstlerische, um die Geheimnisse der Form , den sprachimmanenten Bedeutungszauber. Den Könnern, und dazu zählt natürlich er selbst, gesteht er ohne weiteres den Blick in den herbstlichen Park (George), eine blaue Hortensie (Rilke) und, wir dürfen ergänzen: Herrn Benn eine Anemone oder einige Ebereschen zu. Dennoch - die ehemalige spinatgrüne Erhabenheit kriegt es am heftigsten ab. Das muß einen Grund haben. Der obenerwähnte Kollege hat sich mit Wilhelm Lehmann beschäftigt. Er würdigt durchaus einen Lyriker, der sein Handwerk auf eine konservative Weise großartig verstanden hat, fragt sich dann aber doch, was Lehmann sich vielleicht mit dem Blick auf die Natur ersparen wollte. Das war, so vermute ich, auch die an mich gerichtete Frage.
Was wäre aber nun das ersparte, ausgesparte "Andere"? Der lockeren Assoziationsreihe Natur - Landschaft - Jahreszeiten - zyklische Ewigkeit - Gemüt - Übereinstimmung/
Zustimmung (am Ende gar "Lob Gottes aus der Natur"? Ach, Menschenskind, wie liecht det weit!) könnte man eine andere entgegensetzen: Stadt - Soziales - Zivilisation - Geschichtlichkeit - Politik - Diskussion - Opposition. Dann wird vielleicht augenfälliger, daß das ganze auch eine Frage von Lifestyle und Atmosphäre ist, daß die reinen Materialelemente immer schon als Signale von Haltung und Gesinnung verstanden werden. Und man versteht, daß es einem anständigen urbanen und coolen Intellektuellen einfach auf die Nerven gehen muß, wenn ein Wilhelm Lehmann überhaupt solche Namen kennt wie Schwalbenwurz, Fliegenschnäpper, Eisenhut, Lolch und Bibernell. Da ist man ja schon halbwegs in der Pampa verloren, unangesehen dessen, was in den Gedichten eigentlich verhandelt wird...
Nun aber ist es höchste Zeit, daß wir uns von einem spinatgrünen Naturbegriff trennen. Wie? Sind innere Sekretion, Ionenkanäle, Kristallgitterstrukturen, Geoformationen, sind Ernst Haeckels filigrane Kalkskelettchen im Mikroskop etwa nicht Natur?
Noch einmal Doderer (er spricht von einem Insekt):

von einem jener langbeinigen beflügelten Wesen, deren gläserne Künstlichkeit bei naher Betrachtung schon dasjenige eigentlich aufhebt, worein sich alle Flachköpfe als befriedigende Erklärung flüchten mit dem Worte Natur, welches in ihrem Munde dann wie ein faules Gähnen klingt, reduziert auf die zwei Vokale, und diese umgestellt...

Das Schlüsselwort heißt hier: bei naher Betrachtung. Und bei dieser genügt ein Schritt ins harmloseste Wäldchen vor der Tür, und schon befinden wir uns im Ur-Dschungel. Wie Stifter zu recht die vulkanischen Riesenkräfte im kochenden Milchtopf sah, so erscheint im Blumentopf die Wildnis. Und die verpönte Gemütlichkeit, die im Grunde auf Ungenauigkeit beruht, hat ganz von selbst ein Ende. Kann man zum Beispiel die so charakterisierte Natur lieben? Ich denke doch: man kann, mit der respektvollen Neugier und dem Hauch freundlich-entsagender Solidarität gegenüber dem Fernsten, Fremdesten, wie sie Naturforscher offenbar aufbringen.

Was ist Natur? Am Ende alles, auch der Mensch, das "von Natur aus unnatürliche Wesen"?
"Physis" war den alten Griechen das, "was immer ist". Wer wollte, könnte es auch "das Ewige" nennen. Aber warum fortschrittliche Geister unnötig mit diesem Wort verprellen? Für mich würde ich vielleicht abwandeln: Natur, ob nun spinatgrün oder kristallin, ist das Vorgefundene, das, was mir vor den Blick kommt. Und da mein Blick ein begrenzter ist, nur eine Facette im kollektiven poetischen Fliegenauge, bevorzugt er das eine und vernachlässigt das andere. Kann ich daran auf Empfehlung wohlmeinender Mitmenschen etwas ändern? Ich kann Anregungen aufgreifen, gewiß, aber alles, was nach Gesinnungskontrolle und forciertem Vorsatz aussieht, würde den Blick verbiegen. Und auf den Blick kommt es an, auf das, was mir auffällt und was vielleicht den nun erst beginnenden Prozeß auslöst. Vielleicht, denn nicht jedes in die Auster geratene Sandkorn ergibt eine Perle. Wo kämen wir hin, wenn Lyriker aus jeder Beobachtung, jedem Gedanken, der ihnen durch den Kopf zieht, ein Gedicht zu machen versuchten? Andererseits: warum sollte man sich von Rubriken und In/Out-Listen einschüchtern lassen ? Wer will, mache ein Gedicht über Spinat, sofern es gut ist. Meine Devise heißt: Soll doch jedes Gedicht sehen, wo es bleibt.

Zum Schluß noch der unsterbliche Satz, mit dem, kaum ist es fünfzehn oder zwanzig Jahre her, das österliche Feuilleton meiner Lokalzeitung begann, ein Satz, an dem jedes einzelne Wort so falsch ist, daß das ganze auch wieder einen putzigen Charme hat:
Nun singen die Dichter wieder: der Lenz ist da.