Kolumne

Bdag

 

Bdag gis lus kyis stag mo ltogs pa bsnyod do.

བདག་གིས་ལུས་ཀྱིས་སྟག་མོ་ལྟོགས་པ་བསྙོད་དོ

Die Zeile eines dadaistischen Gedichts? Von irgendetwas zu viel eingenommen? Kaffee? Tee? Pflaumenmus? Nein, gar nichts von allem: Es ist ein Mittel gegen die Winterdepression. „Mein Gott, um 15:00 h muss man Licht brennen“, wie meine Großmutter aus dem sparsamen Schwäbischen zu sagen pflegte. Mein Haus auf dem Berg ist in dichten Nebel gehüllt, die Sonne ist nicht zu sehen und im Radio spricht man von irgendjemandem, der einen Nebelteppich über der kompletten Republik beklagt. Leidet er wie ich an Melancholie aufgrund von Mangel an Sonnenlicht? Also ist der Auslöser der rätselhaften Zeile oben Melancholie, ist es gar ein Grund, einen Psychiater zu konsultieren? Oder die Lichtheilerin im Nachbarort? Nein, es ist ein Satz einer für mich neuen Sprache besonderer Art: Es handelt sich um Tibetisch, eine Sprache durchaus von Interesse für Lyriker und Lyrikerinnen, wenn ihnen die Melancholie nicht jedes ab Oktober geschriebene Poem einschwärzen soll. Ein Satz aus einer Grammatik, nach der wir, eine Studentin, zwei Studenten und ich als Gasthörer Tibetisch lernen. Es ist das ultimative Mittel gegen jede Winterdepression, weshalb der Einführungskurs vermutlich stets im Wintersemester beginnt, während meist noch goldene Sonnenstrahlen die ehemalige Klinik am Firmaneiplatz zu Marburg an der Lahn hinter der frühgotischen Kathedrale, der Grabkirche der Heiligen Elisabeth von Ungarn, streicheln.

Lyriker und Lyrikerinnen mögen den Satz mehrmals vor sich hinsprechen, gegebenenfalls auch in einen Taschenspiegel blickend. Wenn sich dann die Melancholie nicht verflüchtigt, sollten sie die Lichtheilerin im Nachbarort aufsuchen oder Tibetisch 1 a belegen (u. U. als Gasthörerin), denn Herr Maximilian Mehner MA, Dozent für Tibetisch an der Alma mater philippiana zu Marburg, bringt beispielsweise eine Ziege mit in den Unterricht. In Wahrheit bringt er einen Bram ze, einen Brahmanen mit, der eine Ziege gekauft hat. Nein, nicht auf dem Bauernmarkt hinter der Kathedrale, immer mittwochs, sondern in einem tibetischen Übungstext zum Terminativ, einem Fall, den es in deutschen Poemen nicht gibt, den es im Deutschen überhaupt nicht gibt und der zusammen mit Lokativ, Ergativ und Komitativ die Synapsen nur so nach neuen Verbindungen schnappen lässt, wobei dann die schwarzen Säfte der Melancholie aus den Verbstämmen, äh, Hirnstämmen, ich meine Stammhirnen gejagt werden.

Das Ganze wirkt dann leicht euphorisierend. Wieso aber ein veritabler Brahmane eine ར ra ( = Ziege) kauft und mit sich schleppt? Das fragte ich mich halblaut auch und der junge spanische Student der Religionswissenschaften klärte mich gleich auf: als Opfer. Der Dozent gibt dann eine weitere seiner aufschlussreichen kulturhistorischen Erläuterungen, dieses Mal zum Opfer im indischen Kulturraum, das nahezu unerfüllbare Kriterien erfüllen muss, sodass sich die lha rnams, die Götter, am Ende mit einer Kokosnuss zufrieden geben müssen. Sehr sympathisch. Dann kommen fünf Räuber, ja, auch im Text, nicht im Unterrichtsraum in der ehemaligen Kinderklinik. Was gäbe es denn da zu rauben? Einer liest einen Satz in der zehnten Seminarstunde nach Beginn und Erlernung der Schrift, er liest ihn ein zweites Mal und die anderen müssen die sprachliche Gen-Schere anwenden und grammatische Einheiten begründet abtrennen und übersetzen. Dozent Mehner erträgt mit tibetanischer Geduld die bisweilen doch sehr unvollkommenen Lesungen in Alttibetisch.

Es ist höchste Konzentration gefordert und nach einer Weile gerate ich durcheinander und denke nur noch an die Ziege, mein Sprachzentrum ermattet, der Geist schweift in eine andere Hirnregion ab und ich frage mich, ob die Ziege eines Brahmanen weiß oder gar schwarz sein müsse, schweife weiter zur Frage, ob es auf dem Dach der Welt überhaupt schwarze Ziegen gebe und schrecke wieder auf, als mir blitzartig durch den Kopf fährt, einer im Seminarraum zerlege gleich die Ziege, ob weiß oder schwarz, die arme Ziege, und beruhige mich dann schnell wieder, als mir einfällt, dass in den Seminargebäuden keine Opfer dargebracht werden, nicht einmal Kokosnüsse.

Wir lesen eine wunderbare, ganz neue Grammatik, verfasst von der an der Humboldt-Universität in Berlin lehrenden Tibetologin Joanna Bialek: Classical Tibetan. A Textbook. Sie ist sehr klar und logisch. Mir gefallen die aus tibetischen Originalen ausgewählten Beispielsätze wie

De nas brag srin mo langs su.

ཌེ་ནས་བྲག་སྲིན་མོ་ལངས་སུ
Danach entstand eine Felsendämonin.

Obwohl natürlich zu befürchten ist, dass die Dämonin dem Brahmanen die Ziege streitig macht. Ich sollte es vielleicht nicht mitteilen, aber ich stelle mir die brag srin mo, die Felsendämonin, nach dem tibetischen Klang als eine junge Dame mit langen roten Haaren und großen grünen Augen vor, die Fingernägel blutrot lackiert und mit dem durchaus freundlichen Blick der Verwaltungsangestellten der Universität, die mir erklärt, mein Beitrag als Gasthörer von 100 Euro je Semester könne erst später, viel später, abgebucht werden. Das ist dann schon leicht magisch, denn die Hälfte des Semesters ist schon vergangen und die Felsendämonin hat noch keinen Cent abgebucht.

Anstelle solcher abschweifenden Gedanken sollte ich mir lieber meine selbst entworfenen mnemotechnischen Merkwörter einzuprägen versuchen, die ich auf dem Klapprad durch die kleine Stadt fahrend vor mich hin spreche:

NGa Da Na Ma Ra La DU.
 

Ja schon, Sie haben Recht: Das ist eindeutig Dada, heißt aber nur, dass nach den Endkonsonanten -ng, -d, -n, -m, -r und -l der Terminativ mittels der tibetischen Silbe du gebildet wird.

Tibetisch wird in Hamburg, Berlin, Leipzig, München, Marburg und Bonn gelehrt, also ganz gut über die Republik verteilt, wenn sich jemand entschließt, durch eine großartige Stimulation der Gehirnzellen allfällige Winter- und Allgemeintiefs zu überwinden. Diese Sprache hat eine erstaunliche therapeutische Wirkung, was offenbar bis heute noch niemand entdeckte.

Seit der chinesischen Okkupation des großen, aber sehr gering besiedelten Landes läuft die autochthone Kultur Tibets Gefahr unterzugehen. Manche Wissenschaftler sprechen von einem cultural genocide. Auch dieser traurige Umstand ist Anlass, sich mit der Sprache intensiv zu befassen, um einen Schlüssel für das Land auf dem Dach der Welt und seine Kultur zu erhalten.

Ach so, sie möchten wissen, was mit der Ziege geschieht. Tut mir leid, das weiß ich noch nicht, die entscheidenden Sätze haben wir noch nicht übersetzt, vielleicht in der nächsten Seminarstunde. Immerhin droht Böses von jenen fünf Räubern im Text. Aber ich kann verraten, was der Dada-Satz vom Anfang bedeutet:

I fed a hungry tigress with [my] body.
 

Meine grau und schwarz getigerte Katze findet ihn toll und will mir jetzt in die euphorisierenden Tibetischstunden folgen.

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