#textediebleibensollten [Pierre Lemaitre]
Die Flut der Publikationen anlässlich des Jahrhunderterinnerns an die Zeit des Ersten Weltkrieges ebbt langsam ab. Was folgt sind Bücher über die „Roaring Twenties“, in denen nicht wenige Beobachter Gemeinsamkeiten zur Gegenwart zu erkennen glauben. Dass derlei historische Analogiesuche in den meisten Fällen ins Leere läuft und Geschichte allenfalls mit Blick auf ihre Prozesse als eine Lehrerin für das Zeitgeschehen herangezogen werden sollte, spielt dabei keine Rolle; zu reizvoll sind die schnellen und scheinbar offenkundigen Querverbindungen zwischen dem Damals und Heute, sei es politisch, ökonomisch oder kulturell. Eine lesenswerte Ausnahme ist das neue Buch von Wolfgang Martynkewicz, „1920. Am Nullpunkt des Sinns“ (Aufbau Verlag). Anders als der Titel suggeriert, beschäftigt sich Martynkewciz darin nicht nur mit dem Jahr 1920, sondern liefert ein literatur- und kulturgeschichtliches Panoptikum der 1920er, wobei er nicht in die Falle läuft, sich rückblickend zum allwissenden Betrachter aufzuschwingen, dem beim Schreiben der Ausgang der Geschichte bereits vor Augen schwebt.
Unter den Romanen über die Zeit 1918ff. sticht Pierre Lemaitres 2013 im französischen Original erschienenes und mit dem Prix Goncourt prämiertes Werk „Wir sehen uns dort oben“ (deutsch 2014) hervor. Das Buch erzählt vielschichtig von den letzten Kriegsmonaten sowie dem Paris der Nachkriegszeit, und entwickelt sich zu einer vertrackten Kriminalgeschichte, die trotz ihrer Tragik unglaublich witzige Passagen aufweist – und an den heute kaum noch bekannten Roman „Der schwarze Obelisk“ von Erich Maria Remarque erinnert, der zwar erst 1956 erschienen ist, aber ebenfalls in den 1920ern angesiedelt ist.
Im Mittelpunkt von „Wir sehen uns dort oben“ stehen drei ehemalige Frontsoldaten, deren Schicksal eng verwoben ist. Albert Maillard wurde in den letzten Kriegstagen an der Front verschüttet und in letzter Sekunde von seinem Kameraden Édouard Péricourt gerettet. Diesem wurde dabei das Gesicht von einer Granate bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt, sodass er sich fortan hinter selbst gebastelten Masken zu verbergen sucht. Der dritte im Bunde, Henri D’Aulnay-Pradelle, war im Krieg ihr Vorgesetzter und verantwortlich dafür, dass es überhaupt noch zu diesem militärisch sinnlosen Angriff gekommen war. Während der als Held gefeierte D’Aulnay-Pradelle nach Kriegsende die schwerreiche Schwester Édouards heiratet, täuschen Albert und Édouard den Tod Édouards vor; gemeinsam leben sie in Armut, verbunden in Dankbarkeit (Albert) und Abhängigkeit (Édouard). Von den neu geschaffenen Familienbanden mit D’Aulnay-Pradelle erfährt Albert, als er Édouards Familie über die vermeintlichen Details des vorgetäuschten Todes Édouards informieren muss. Mit dem Freund teilt er sein Wissen aber nicht; dessen Verhältnis zum Vater gilt – beziehungsweise: galt – als zerrüttet (wenngleich die Nachricht vom Tod des einzigen Sohnes den Vater in eine schwere Krise stürzt).
Was Albert, Édouard und Henri darüber hinaus verbindet, ist das Ziel, aus den Nachkriegswirren Kapital zu schlagen. Henri, indem er eine Firma gründet, die sich auf die Exhumierung und Überführung lediglich notdürftig vergrabener Frontsoldaten spezialisiert, wobei er es mit den Identitäten der Soldaten ebenso wenig genau nimmt wie mit den erforderlichen Sarggrößen (das aus Kostengründen gewählte Standardmodell misst lediglich 1,30m); Albert und Édouard, indem sie gegen Vorkasse Kriegerdenkmäler an Gemeinden im ganzen Land verkaufen, die sie nie auszuliefern gedenken.
Beide Unterfangen bringen kurzfristig viel Geld, scheitern dann aber schmählich. Und ohne vom Treiben der jeweils anderen Seite zu wissen, verschränken sich ihre Geschichten, wobei Édouards Vater unfreiwillig als die treibende Kraft fungiert. Denn Monsieur Péricourt hat sich als Arrondissement-Vorsteher nicht nur ein falsches Kriegerdenkmal andrehen lassen, er will auch den verhassten Schwiegersohn loswerden. Doch bevor er ihn den Gang ins Gefängnis antreten lässt, den er mit einem Anruf beim Minister hätte verhindern können, beauftragt er Henri, die Denkmal-Betrüger, und damit den totgeglaubten Sohn, ausfindig zu machen. Als ihm das gelingt, nimmt das Drama seinen Lauf, an dessen Ende Alberts erfolgreiche Flucht in den Maghreb und Édouards nun tatsächlicher Tod stehen.
Pierre Lemaitres Roman verwebt geschickt die Schicksale scheinbarer Kriegsgewinnler und Kriegsverlierer miteinander. Die Darstellung der letzten verzweifelten Kriegswochen an der Front ist meisterlich; und doch ist sie lediglich der Auftakt zu einer nicht minder gelungenen tragischen Gesellschaftskomödie im Paris der Jahre 1919/20, die sich nahtlos einreiht in die französische Erzähltradition des 19. Jahrhunderts. Es lohnt sich also, das Buch 2020 (noch einmal) zu lesen; es hat das Zeug, ein moderner Klassiker zu werden.
***Pierre Lemaitre:
Wir sehen uns dort oben.
Aus dem Französischen von Antje Peter.
Klett-Cotta Verlag 2014, 521 Seiten, 22,95 €
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