Meta-Rezension I
Nun weiß ich nicht, ob die Form der Rezension eine literarische ist oder in ihren besten Exemplaren sein kann, ich bin mir trotz Karl Kraus dessen nicht sicher. Einer der Gründe besteht darin, dass höchst selten bei den doch so verschiedenen und diversen Temperamenten und Meinungen hier auf dieser anspruchsvollen site, ein Gespräch oder eine Diskussion entsteht. Ich verstehe es nicht und bedauere es. Eine Reaktion wird höchstens noch von einem Skandalon (etwa unter die Gürtellinie zielenden Vorwürfen) oder dgl. ausgelöst, ich habe es selbst erlebt und man kann es hier nachlesen. Was mich ungemein wunderte, war, dass nach der Statistik auch meine (betagte) Altersgruppe der über sechs Jahrzehnte alten Menschen, die site wahrnimmt. Auch die Statistik teilt mit, dass ich zwei Jahre und vier Monate, allerdings mit größeren Pausen, auf der site tätig bin, auch dieses Faktum überrascht mich. Denn es ist ja so, als würfe man seine Texte wie winzige Sandkörner in den Ganges oder auch nur in die Ohm, die ich wie Paulus Böhmer sehr mag. Es hat etwas Magisches. Aber wie alle Magie sind auch diese magischen Wurfbewegungen folgenlos, wie das Vorbeiziehen einer nun wirklich strange geformten Wolke. Ich kenne den ganz offensichtlich guten Geist der site nicht persönlich, ich habe noch nicht einmal die Stimme Julietta Fix‘ vernommen, kenne einige Fotos im Netz und einige ihrer Texte. Sie hat mir einmal einen schönen Druck geschenkt, den ich, ich gestehe es, noch nicht aufgehängt habe, da alle Wände mit Bücherregalen zugestellt sind und ich mich weigere, Bücher von mir zu stoßen, die notwendig folgende depressive Verstimmung ließe sich auch mit mehren Kannen Tee nicht wegspülen. Die Menschen im Hamburger headquarter (mir fällt kein weniger militaristischer Begriff ein) sind ausnahmslos nett und ebenso hilfsbereit in der Handhabung der IT wie unsichtbar, stimmlos, körperlos. Ich empfinde es als sehr angenehm, weil es so wenig anstrengt. Es ist eben eine virtuelle quasiliterarische Kommunikation. Ich bestehe für die Hamburger nur aus den Ihnen gesandten Wörtern und Sätzen und möglicherweise aus den Dingen, die über einen gewissen RS im Netz zu finden sind, aber dessen bin ich mir auch nicht sicher. Jedenfalls ist das einzige Foto, das ein armselig einsames digitales Dasein im Netz führt, höchst problematisch, da ich nur für meine Katze so aussehe. Es ist vor Jahren in das Netz geraten und taucht nun an allen möglichen und vielen unmöglichen Stellen überraschend und wie ein Schlag auf meine Netzhäute auf.
Ich komme zum Ganges- oder Ohmsand zurück: Da es sich um magische Prozesse handelt (jedenfalls für meine Generation) besteht eine große Gefahr: Ich werfe einfach alle Sandkörner in den Ganges bzw. via Datenfernleitung oder wohl eher via Satellit in die schöne Hansestadt – und zu meinem Erstaunen ist bisher jedes Sandkorn aufgefangen worden. Dafür möchte ich mich einmal bei den virtuellen Empfängern bedanken. Das war, glaube ich, jetzt ganz nett, aber ich werfe gleich wieder mit Sand:
Zur Erinnerung: Es geht um Magie, Bücher und eine Rezension. Der Verlag Artia in Prag brachte in den 1950er Jahren wunderschöne Photobände heraus, deren frühe opake Farbdrucke eine ganz besondere Aura haben, ebenso wie die eher sepiabraunen Schwarzweiß-Aufnahmen. Vor längerer Zeit bereicherte ich meine Sammlung zu Tibet um den Band von Vladimir Sís und Josef Vaniš: Der Weg nach Lhasa, Prag 1956. Der Band erschien sechs Jahre nach der chinesischen Okkupation des riesigen Landes, das zeit seines Bestehens zwar innerlich unabhängig, wenn auch schon einmal, und zwar von den Mongolen, besetzt war, es erschien also drei Jahre vor dem großen Aufstand in Lhasa 1959, in dessen Gefolge der 14. Dali Lama nach Indien floh und 30 000 Menschen ihm folgten. 86 000 Tibeter kamen in dem brutalen Eingreifen der zynisch „Volksbefreiungsarmee“ betitelten chinesischen Okkupationsmacht ums Leben. Die Kommunistische Partei sandte 10 000 Soldaten und zivile Kader in die Dörfer, um den Klassenstatus festzustellen und die dörfliche „Elite“ auszuschalten. Damit begann, was bereits in der Enzyclopedia britannica von 1974 „cutural genocide“1 genannt wird. Es ist zu befürchten, dass eine einzigartige Kultur, die (wie alle Weltkulturen) das Recht hatte, sich nach eigenen Maßgaben zu entwickeln, im Land Ihrer Entstehung ausgelöscht ist.
Die Bilder des Buches zeigen Tibet wie es nicht mehr existiert. Nach 1959 und verstärkt in der sogenannten Kulturrevolution 1966 bis 1976, in der eine fanatisierte junge Generation nicht nur Wandaufschriften entfernte, sondern immer gleich den ganzen Tempel in Schutt und Asche legte. Von der riesigen Festung Shigatse bei Lhasa blieben nach 1959 nur wenige Mauerreste übrig, Tausende Tempel wurden dem Erdboden gleichgemacht. Wie umfassend die Destruktion war, mag folgendes Zitat nach Michael von Brück2 zeigen:
Die Bibliothek des Sakya-Klosters war bis zur Besetzung Tibets durch die Chinesen im Jahre 1950 eine der größten des Landes und barg Tausende kostbarer Manuskripte und Blockdrucke aller buddhistischer Traditionen, die teilweise sogar aus dem indischen Kloster Nalanda gerettet worden waren, das muslimische Invasoren im 12. Jahrhundert zerstört hatten. Nur ein kleiner Teil der Bibliothek konnte nach 1959 durch die Flucht der Mönche aus Sakya nach Nordindien in Sicherheit gebracht werden.
Angesichts dieses historischen Geschehens schreibt der nicht ganz unbekannte neomarxistische Philosoph Hans Heinz Holz, 1927-2011, (Promotion bei Ernst Bloch: summa cum laude) für das formidable Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 14. XI. 1962 die Rezension „Geheimnisvolle Kunst aus Tibet. Ausstellung in der Kunsthalle Bern“. Ich fand die Rezension feinsäuberlich ausgeschnitten und rot datiert in einer eigens auf den Rückendeckel des oben beschriebenen Prager Photobandes aufgeklebten Lasche eingesteckt.
Es gibt immer noch Länder, die als Terra incognita gelten können, selbst wenn sie von kühnen Reisenden und geduldigen Forschern durchzogen wurden. Tibet gehört zu diesen weißen Flächen in unserem Bewußtsein, obwohl wir jüngst einiges über dieses geographische Herz Asiens in den Zeitungen zu lesen bekamen und sogar flüchtende Lamamönche ihren Weg bis in den Westen fanden. Mißverständnisse sind darum verständlich. Heimatlosen Flüchtlingen helfen ist immer gut – und wenn wohlmeinende Stützen der Gesellschaft, die die schweizerische Tibethilfe begründet haben, dies unter dem Schlagwort „Freiheit für das unterdrückte Volk Tibets“ tun, so nimmt man dies lächelnd hin, wie grotesk der Begriff Freiheit sich angesichts eines Landes auch ausnehmen mag, das auf dem Zivilisationsniveau der jüngeren Bronzezeit verharrt und seit Jahrtausenden von einer organisierten Priesterkaste unter Anwendung aller Praktiken der Magie in einem Weltbild des Aberglaubens und in kultureller Stagnation gehalten wurde.
Ist die im Kern rassistische Arroganz noch zu überbieten? Ein Lächeln angesichts der von den nicht weniger anmaßenden Chinesen 1959 (vor allem) in Lhasa verübten barbarischen Verbrechen? Einer einzigartigen Kultur, die mit beschränkten Resourcen die Staunen erregende Feinheit einer religiösen Plastik hervorbrachte, die gotischen Schnitzarbeiten nicht nachsteht, den Charakter der Hochkultur abzusprechen, kann wohl nur auf die Enge einer traditionalistisch ausgelegten neomarxistischen Ideologie zurückgeführt werden, die humanistische Feinfühligkeit vermissen lässt.
Digitale Rezensionen werden wohl eher nicht in (noch) gedruckte Bücher eingelegt, schade eigentlich, denn damit verschwindet für Spätere die Möglichkeit, Meta-Rezensionen zu schreiben und bescheiden zu erfahren, dass der eigene Blickwinkel vielleicht ein ebenso enger oder mit Ressentiments belasteter sein könnte. Zu allerletzt: Was geschieht eigentlich mit dem vermutlich sehr umfangreichen Fixpoetry-Archiv? Wird es irgendwo digital eingesteckt? Fragte schon jemand aus Marbach nach? Nein? Ja? Wenn ja, dann scheint die Form der Rezension doch einen gewissen bescheidenen literarischen Anspruch zu haben.
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