Kolumne

Bilder im Text

hochroth Bielefeld und das Übersetzungslabor Gruppe Bie

Welche Rolle spielen Bilder beim Schreiben von Lyrik? Dieser Frage gingen die Lyrikerinnen Tzveta Sofronieva, Niilas Holmberg, Jennifer Kwon Dobbs und Johanna Domokos am 16. Januar in einer gelungenen Mischung aus Gespräch und Lesung in der Stadtbibliothek Bielefeld nach.

Den Auftakt machte Tzveta Sofronieva, die sowohl bulgarisch als auch englisch und deutsch publiziert, und deren Lyrik „einen tiefen Einblick in das Zusammenspiel von verschiedenem Fachwissen, menschlichen Ausdrucksformen und kreativen Prozessen gewährt“.1 Sofronieva, die übrigens nicht unwesentlich an der Gründung der Zweigstelle des Hochroth Verlages in Bielefeld  beteiligt war, las aus ihrem 2017 bei hochroth Bielefeld erschienenen Gedichtband „Anthroposzene“, das gleichzeitig den Auftakt für die vom Bielefelder Zweig initiierten Reihe „translingual“ bildete.

In ihrem Vortrag verlieh Sofronieva ihrem multilingualen Gedichtzyklus eine sprachliche Dimension, die gerade für dieses Werk von unschätzbarem Wert war.

Im anschließenden Gespräch erzählte Sofronieva, dass dieser Zyklus entstanden ist, während sie darüber nachgedacht hat, was eigentlich ihre Netzwerke sind. Und als erstes seien ihr dabei Netzwerke mit Freundinnen über den Austausch von Rezepten in den Sinn gekommen.

         „kapusta Maria
         Maria´s cabbage
         Kohl und Maria […]“

So setzt das erste Gedicht, der insgesamt 33 Gedichte aus Anthroposzene ein.

Temperamentvoll und klug zerlegt Sofronieva für ihre Gedichte Worte in einzelne Silben und spielt mit der Vielfalt der Bedeutungen.

Niilas Holmberg, Lyriker und samischer Aktivist, konnte an diesem Abend leider nicht persönlich anwesend sein, setzte sich aber in einer Videobotschaft mit der Frage auseinander, was Selfie und Poesie miteinander zu tun haben.

Dabei erzählte er zunächst wie er mit dem Schreiben von Gedichten begonnen hat. Als 16jähriger mit der plötzlichen Einsamkeit in einer großen Stadt konfrontiert, wurden die Gedichte zum Gesprächspartner, der ihm im Alltag fehlte.

Im Laufe der Jahre wurde das Schreiben mehr und mehr zu einer Verschränkung von sehr persönlichen Erfahrungen mit historischen Prozessen. Wobei das kollektive Denken, das typisch für indigene Völker ist, schließlich zunehmend in den Vordergrund trat.

Ein Mitglied der Gruppe Bie, die die Veranstaltung klug und lebendig moderierte, trug Holmbergs Gedicht „Die Trommelhaut“2 vor. Ein Gedicht, das die Selbstbefragung als Selbstverortung noch einmal eindringlich illustriert. Dichten wird spürbar als der zwingende Wunsch zu verstehen.

Jennifer Kwon Dobbs, in Südkorea geboren und als Adoptivkind in den Vereinigten Staaten aufgewachsen, wo sie heute Professorin für Englisch und Programmdirektorin für Ethnologie am St. Olaf College ist, nimmt mit ihren Gedichten historische Momentaufnahmen in den sprachlichen Blick.

Ihre Gedichte sind zugleich Dokumentationen. Zeugnisse über ausgegrenzte Menschen, „Nekrobürger“, Personen koreanischer Herkunft, die ohne Bürgerrechte leben, da sie rein bürokratisch nicht existieren. Weil in Südkorea ausschließlich der Vater eines Kindes berechtigt ist, das Kind zu melden, gibt es eine Vielzahl von Kindern ohne Geburtsurkunde. Diese Personen arbeiteten in den Militärlagern als Prostituierte, Köche, Angestellte und sonstige Handlanger. Auf diese Weise wurden sie zu wichtigen Garanten eines Vertrauensverhältnisses zwischen Südkorea und den Vereinigten Staaten.

Diesen Menschen eine Stimme zu geben, ohne sie zu verraten, ist eines der vornehmlichen Anliegen von Jennifer Kwon Dobbs Dichtung.

Lesen, sagt Kwon Dobbs, ist mehr als eine lexikalische Wiedergabe, es ist auch der Transport von Gefühlen und Energie, auch das muss eine Übersetzung einfangen. An dieser Stelle sei Laura Hansen erwähnt, die souverän die Simultanübersetzung vom Englischen ins Deutsche und andersherum übernahm.

Sowohl bei Sofronieva, als auch bei Kwon Dobbs, wird deutlich wie sehr Wissenschaft und Lyrik einander befruchten können. Wie Lyrik Bilder der Wissenschaft, diese kühlen, sehr objektiven Begriffe und Bestandteile der Forschung, in Bilder übersetzen kann, die sich vom Kopf in den Körper übertragen, die den ganzen Leib betreffen und das Verstehen ins Begreifen ausdehnen.

Abschließend liest Johanna Domokos, die bei sämtlichen Hochroth Büchern als Herausgeberin fungiert. Sie ist Leiterin des Übersetzungslabors Bie, Assistenzprofessorin an der Fakultät der Künste der Gáspár – Károlo- Universität in Budapest, selbst Übersetzerin und nicht zuletzt Lyrikerin, die sich ihre Mehrsprachlichkeit, sie stammt aus Siebenbürgen, hat aber einen ungarischen Hintergrund, für den Leser gewinnbringend zu Nutzen macht.

Domokos liest aus einem Gedichtband, in dem sie sich den Landschaftsbildern von Astrid Preston lyrisch annähert. Einer Malerin von deren Bildern sie sagt, sie seien wie Fenster, durch die man ins Innere eines Menschen sehen kann.

Ihre Gedichte positionieren sich gegen das partielle Sehen, durchstoßen die Blasen, in denen wir uns eingerichtet haben, und dringen tief ins Innere dessen, was Menschen ausmacht und verbindet.

Auf beeindruckende Weise klug durchkomponiert gelang es den Veranstalterinnen an diesem Abend unterschiedliche Dichter und Dichterinnen durch ihre jeweiligen Blickwinkel zu verbinden. Die Bilder von der Welt als Ganzem (Sofronieva), über die Rolle des Selbstbildes (Holmberg) und die historische Momentaufnahme (Kwon Dobbs) zoomten immer näher an das unsichtbare seelische, was die Menschen im Innersten ausmacht (Domokos) heran.

Dieser Abend brachte nicht nur ungewöhnliche Dichterinnen zu Gehör, sondern war gleichzeitig eine eindringliche und gelungene Demonstration für die Notwendigkeit und Kraft der Lyrik.

 

  • 1. Johanna Domokos im Vorwort zu „Anthroposzene“
  • 2. Aus dem Band „Worte verschwinden fliegen zum blauen Licht“ , samische Lyrik von Joik bis Rap, 2019  erschienen im Samica Verlag

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