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Politisches Varieté
»Politik ist die Kunst, Staatsgeschäfte zu besorgen. Kunst nicht im Sinne der werteschaffenden Kultur, sondern im Sinne der Artistik: denn in der Politik handelt es sich um Jonglieren, Balanzieren, Seiltanzen, Sprüngemachen. Politik also ist das Kunststück, Staatsgeschäfte zu besorgen. Die Berufsartisten dieser Spezies der Leichtathletik nennt man Diplomaten. Ihre Fertigkeit ist Begriffsverrenkung, Rechtsverdrehung, Verschwindenlassen offenkundiger Tatsachen und Herbeizaubern von Irrealitäten. Wer es im Durcheinanderwerfen scheinlogischer Seifenblasen zu besonderer Geschicklichkeit gebracht hat, wird von den Staatsbürgern als Staatsmann hoch gepriesen und erhält von seiner Direktion edelsteingeschmückte Orden. Die Stars der Diplomatie scheinen seit geraumer Zeit ausgestorben zu sein. Die das Handwerk heutzutage betreiben, beweisen in ihren Vorführungen soviel Ungeschick, daß das zahlende Publikum ihnen nachgerade hinter die Schliche kommt. Man fängt an, die Hexerei zu bezweifeln, da den Hexenmeistern die Geschwindigkeit abhanden gekommen ist. Dilettanten drängen sich an den Zauberkasten, den Zuschauern gefällt die Gaukelei nicht mehr, sie wollen mitspielen und zeigen, wie man die Sache besser machen kann. Der geheimnisvolle Staatskarren hat die Gardinen zu weit zurückgeschoben. Die Zauberutensilien sind erkannt worden. Hinz und Kunz wollen selber zu jonglieren versuchen. Man mußte den Wagen rot lackieren und aufs Firmenschild »Demokratie« malen.
Hinz und Kunz haben ihren Willen erreicht. Die Staatskunst ist auf die Dörfer gegangen. Die Märkte und Flecken wählen ihre Faxenmacher selbst und sehen befriedigt zu, wie die Auserwählten ihre teuren Porzellanteller auf der Nase balanzieren, fallen lassen und entzweischmeißen. Hinter der Bühne ist man bemüht, die Scherben zu kitten, damit das Variété weiter spielen kann. Ein wenig Kritik hat das pro tempore zahlende Publikum allmählich gelernt. Darauf ist es aber noch nicht gekommen, daß die Teller und Glaskugeln, mit denen im politischen Elumstheater gearbeitet wird, seine Rechte und Interessen sind, daß der Gaul, auf dem die Diplomatie hohe Schule reitet, sein Buckel, und das Seil, auf dem Politik getanzt wird, sein Lebensnerv ist. Es schaut gemächlich zu, wie die Staatsartisten der verschiedenen Länder um seine Knochen würfeln, und findet gar nichts dabei, daß zur Austragung ihrer Katzbalgereien sein Blut gezapft wird. Der politische Hokuspokus ist ein verdammt gefährliches Handwerk, nicht für die, die es treiben, sondern für die, mit denen es getrieben wird: und das Objekt der Politik sind die Völker, sind die Nationen im Rahmen der von den Diplomaten gezogenen Landesgrenzen. Alle politische Aktion gilt der Übertölpelung, Überschreiung, Übervorteilung des nationalen Konkurrenz-Variétés.«
Der Schriftsteller und Anarchist Erich Mühsam in seinem Essay »Politisches Varieté«, der scharfsinnig und unerbittlich den Politikbetrieb der 20er Jahre umreißt und in seiner zeitlosen Darstellung zu Teilen sicherlich auch heute noch zutrifft. Erich Mühsam wurde am 6.4.1878 in Berlin geboren, rief 1911 »Kain: Zeitschrift für Menschlichkeit ins Leben«, wurde zu einer der zentralen Figuren der »Münchner Räterepublik«, aufgrund seiner politischen Haltung und Ideen immer wieder inhaftiert, schrieb Briefe, Tagebücher, Satirisches und Romane, bevor er schließlich nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 in Schutzhaft genommen und am 10.7.1934 im KZ Oranienburg brutal ermordet wurde.
(Zitiert nach: Projekt Gutenberg. Erich Mühsam: Appell an den Geist. Texte und Geschichten)
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