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aufgelesen [34] »Texte zu Flucht & Vertreibung«

Max Tau • * 1897 Berlin † 1976 Oslo

 

Mauern

»Schwer ist es immer, in einem neuen Land anzufangen. Daheim, wo man den Boden bereits beackert hat, kann man an den Keimen erkennen, ob es einmal blühen wird. Aber das ändert sich, wenn man in ein Land kommt, wo man die geistige Atmosphäre noch nicht kennt. Man möchte weiterbauen und gerät an eine Mauer, die die Menschen selbst errichtet haben. Je kleiner ein Land, um so stolzer und bewusster ziehen sich die Menschen auf ihre Eigenart zurück. Oft wissen sie kaum, was diese Eigenart eigentlich ist, aber zu dem Anderen können sie immer sagen: »Das ist uns fremd.« In den einsamen Stunden, in denen man sich selbst prüft, Rechenschaft über sein Leben ablegt, versucht man auch immer aufs neue zu planen. Man sucht nach den Werten, die man vermitteln will, und man ist so verwegen zu glauben, dass das, was sich einmal in das Herz hineingesungen hat, auch die anderen Herzen erreicht muss.«

Max Tau in seinem Buch »Ein Flüchtling findet sein Land«, in dem er die Geschichte seiner Emigration erzählt. 1897 in Oberschlesien in einem jüdischen Elternhaus geboren, studierte er Philosophie, Psychologie und Literaturwissenschaft in Berlin, Hamburg und Kiel, u.a. bei Ernst Cassirer, und wurde später als literarischer Leiter eine zentrale Figur des Bruno Cassirer-Verlags. Er förderte und arbeitete mit Schriftstellern wie Marie-Luise Kaschnitz und Wolfgang Koeppen, musste 1933 Deutschland verlassen und floh nach Norwegen, wo er an der Verbreitung deutscher Exilliteratur maßgeblich beteiligt war – die friedliche Verständigung zwischen den Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg immer vor Augen. 1950 wurde ihm der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels u.a. für Werke wie »Das Land, das ich verlassen musste« oder »Denn über uns ist der Himmel« verliehen, zahlreiche Preise folgten. Mitte der 50er Jahre rief er die sogenannten »Friedensbücherei« mit folgenden Worten ins Leben: »Wir leben in der größten Vertrauenskrise der Geschichte. Die meisten Menschen vertrauen allem – nur der eigenen Entscheidung des Gewissens nicht. Sie vermögen nicht mehr dem Inneren zu lauschen. Wirkliches Vertrauen ist nur möglich, wenn wir wieder miteinander ins Gespräch kommen – wenn wir durch den Respekt für den Anderen gemeinsam die Wahrheit suchen. Jeder Sinn und jede Erkenntnis ist nur durch die Mitarbeit des Anderen möglich. Den Frieden finden, heißt in jedem Augenblick mit sich selbst kämpfen, entsagen können, um ein höheres Ziel zu erreichen.« (Die Zeit, 1956).

 

 

 

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