Dichtertotenbriefe

Briefe an B wie Bachmann

Elisabeth von Gerleé schreibt an Ingeborg Bachmann

Rom, Herbst 2012

Liebe Frau Bachmann,

ich danke Ihnen, denn ich kann jetzt besser verstehen, was hier passiert. Ich weiß mich besser zu orientieren, ich weiß glücklicher zu sein.

Ich habe gehofft, dass es heute regnen würde. Wenn ich unter diesem riesigen schwarzen Schirm durch die Gegend wandele, dann habe ich einen sicheren Radius, in dem sich meine Gedanken ungehindert aufhalten können. Und wenn ich hier zu Ihnen komme, dann ist der Platz gut genutzt. Eine schöne Straße haben Sie sich ausgesucht, Frau Bachmann. Schon das verdient Bewunderung, wenn Sie mich fragen, in dieser Stadt den schönen Ort zu finden, an dem man schreiben kann. Ich stelle mir vor, wie Sie hier diese Wohnung besichtigten, von der ich leider noch nicht einmal weiß, welche es genau ist. Und dass auch Sie begrenzte Mittel hatten und dass Sie dann einfach Ja gesagt haben zu dieser Möglichkeit. Vielleicht hatten Sie den Platz auch vorher noch überhaupt nicht gesehen? Möglich ist es. Trotzdem bekamen Sie das Schönste, was zur Verfügung ist weil man nicht wagt, Menschen wie Ihnen schlechte Angebote zu machen. Nicht, weil Sie furchteinflößend waren, so stelle ich mir das nicht vor, sondern weil man es mit Ihnen nicht macht. Weil Sie als Schriftstellerin ein Recht haben auf eine gute Geschichte. Und so bekamen Sie diesen Platz hier unverhofft und sagten später, es sei kein Italien- Erlebnis sondern ein Ort, natürlich zum Wohnen. Das ist so gut verständlich, denn etwas anderes will man ja auch gar nicht als einen Platz, an dem man leben kann. Und wenn er teuer ist, dann ist er teuer. Sie hatten hier eine kleine Ruhe und alles andere was man braucht in groß: Schönheit und Nahrung und Leben und Menschen. All das ist groß, hier in Rom. Ich glaube, hier lebend wussten Sie schon, wie die Ruhe in groß dann doch nur traurig macht. Sie müssen sich ja schon auch für eine Ruhe entschieden haben. Für Malina und Undine und das Ich. Ich kann nicht sehen, dass die alle aus diesen Straßen hier gekommen sind und dennoch so viele Gedanken in sich tragen. Wenn wir uns einmal erinnern, dass die nur von Regenschirmen beschützt und sonst immer gleich wieder zerstört werden wenn sie sich nur einmal ausbreiten wollen.

Haben Sie hier, in diesem Häuschen einen Gedankenluftschutzraum gebaut? War es eine Lüge, dass Sie in Rom lebten? Haben Sie der ganzen Ihrigen Welt glauben gemacht, das hier sei ein neuer Schritt in eine Welt, die es einem besser gehen lässt, das hier sei die Bewegung von Goethe, die noch niemandem geschadet hat, das hier, sei ein Hafen für eine niemals möglich gewesene Zufriedenheit? Aber eigentlich nahmen Sie nur sich selber mit und ihre Schreibmaschine. Und den Herrn Frisch. Und dann waren Sie eben hier und nicht mehr da. Und für Sie spielte es eigentlich keine Rolle. Sie hatten nur ein paar Störfaktoren aus dem Weg geräumt und ein wärmeres Klima.

Ich will es Ihnen gleichtun! Ich möchte mich und diesen Ort mit genau dieser Freiheit verstehen dürfen, die ich Ihnen anhänge. Vom ersten Moment an bin auch ich hierhergekommen um in Ruhe zu leben und das sollte mir doch erlaubt sein. Es wäre mir eine Freude gewesen, Sie hier anwesend zu wissen, aber dafür ist ja leider nicht mehr die Zeit. Es täte mir gut, ab und zu in Ihr Wohnzimmer zu blicken, oder Ihr Arbeitszimmer, denn ich denke nicht, dass Sie mehr als 2 Zimmer besaßen, und Sie, genau wie mich, rauchend und grübelnd, manchmal schlafend und Kaffee und Wein trinkend dasitzen zu sehen. Unbeeindruckt an Ihrem Platz. Unbeeindruckt von der Macht und dem Widerstand, den diese Stadt gegen alles Kleine leistet. Wie Sie das offensichtlich können hilft mir, es auch lernen zu wollen und, genau wie Sie, das alles um sich herum auszutricksen.

Vielleicht hätten wir dann manchmal beide zusammen unsere Zimmer verlassen können, um einen Weg zu der Schönheit zu finden, ohne gleich wieder umzufallen und sich berappeln zu müssen, weil es doch ein bisschen zu viel war für den Kopf, der wieder tagelang nichts als sich selbst gesehen hat und deshalb dem Ewigen nicht standhalten kann. Ich denke, wir hätten es schon irgendwie hinbekommen. Es funktioniert, wenn man ab und zu mal wieder auf den Boden sieht und dann zum richtigen Zeitpunkt versucht, das Objekt nur in zwei Dimensionen wahrzunehmen. Dann kann es einen nicht verschlucken. Erschlagen aber trotzdem. Wir hätten eine besondere Sichttechnik entwickelt, die uns erlaubt, in dieser Stadt zu leben und weniger zu leugnen. Weniger Notwendigkeit zum Leugnen zu verspüren. Wir wären für die Menschen trotzdem im Verborgenen geblieben, nur für Gebäude und Vögel nicht.

Das wäre also mein kleiner Vorschlag, wie wir es hier schön haben könnten. Ich versuche dieses stattdessen dann alleine zu realisieren, unterstelle dabei, dass Sie es sicher mittragen würden, wären Sie hier.

Inzwischen hat sich diese Technik ein Stück weiterentwickelt. Desillusionierend ist dennoch, dass auch der Rückzug immer noch ein großer Teil der Zufriedenheit ist. Nur Stück für Stück stellt sich eine Natürlichkeit ein, die das geplante Absehen von den Verleugnungen erlaubt. Immer wieder wird die halbe Aufmerksamkeit überrascht von Situationen, die sie nur als vollkommene meistern kann. Und genau dann schiebt sich wieder die Theaterkulisse vor das eigene Erscheinungsbild und spricht befremdliche Sätze, die in keine der Kategorien gehören, die zu suchen wir hergekommen sind. Darüber hinaus ist dieses eine körperlich äußerst unangenehme Lage: Man stelle sich einmal vor, überraschend an Ort und Stelle von Holzbrettern eingemauert zu werden und gezwungen zu sein, in der aktuellen Körperhaltung verweilen zu müssen, möge sie auch noch so unbequem sein. So denke ich, wären die Geschehnisse zu beschreiben, wenn man plötzlich mit banalen Fragen konfrontiert wird, auf die zu antworten man in der fremden Sprache nicht angemessen in der Lage ist. Und erstarrt wird. Sie und ich wissen beide, dass der Rückzug und die Vermeidung hier den einzigen Ausweg bieten, weil eine Flucht nach vorne, die in der Aneignung der entsprechenden sprachlichen Kompetenzen bestünde, ein weiter Weg voller zusätzlicher Momente dieser nicht wünschenswerten Art wäre, der uns in der aktuellen Lage einfach nicht begehbar erscheint. Darauf zu beharren ist trotz aller sozialen und gemeinhin anerkannten Argumente richtig.

Ein zu verzeichnender Erfolg ist die Fähigkeit, die erwähnte erschlagende Dreidimensionalität geschickt zu hintergehen. Sich an ihrer zum Staunen verpflichtenden Größe und Schönheit am Boden vorbeizuschleichen, heimlich und vor allem natürlich, um zu dem zu gelangen, was sie seit Jahrtausenden unterdrückt. Das bedeutet auch ein Vordringen in eine leisere Welt, die uns vielleicht ein wenig näher ist als das, wovor wir so panisch die Augen verschließen müssen. Es verspricht uns einen tieferen, noch tieferen Atem in naher Zukunft, wenn wir weitere Hindernisse überwinden werden können.

Ich muss an dieser Stelle auch ehrlich mit Ihnen und mit mir sein und eingestehen, dass ich nicht viel davon weiß, wie weit Sie es eigentlich hinter diese Mauern geschafft haben. Ich möchte keinen Wettkampf daraus machen, aber bei allem, was Sie mir hinterließen über diese Stadt, glaube ich manchmal, wie ich es ja auch schon angedeutet hatte, dass Sie plötzlich anfingen, zu lügen. So, wie Sie hier starben, wie Sie sich hier treiben ließen will ich nicht recht daran glauben, dass Ihnen das Essen Freude bereitete und dass Sie die Menschen gerne ansahen. Ich muss um meiner selbst und den uns folgenden Willen diese kritische Anmerkung machen, weil ich nicht verantworten kann, jemanden aufgrund Ihrer Falschaussagen, die ich Ihnen natürlich trotzdem nicht persönlich anlaste, in Gefahr zu bringen. Die Frage, was diese Stadt denn kann, muss sachlich beantwortet werden, auch wenn ich persönlich natürlich bevorzugt hätte, das Nichtkönnen mit Ihnen zu teilen und zu genießen.

Ich rufe Sie ja auch an, um zu erfahren, was ich hier hoffen darf. Was Sie dazu über die Jahre erzählt haben, erscheint mir, obgleich unspektakulär, sehr wünschenswert. Es beruhigt mich, dass bzgl. der Erfüllung dieser Hoffnung ein Fortschritt zu beobachten ist. Schon dadurch, dass mir inzwischen ein Geschäft bekannt ist, in dem ich Haferflocken kaufen kann. Und genau das tue ich nun wöchentlich, obgleich keine einzige Römerin Haferflocken zum Frühstück isst. Ich fühle mich damit auf Ihrem Weg. Dass Sie hier gerne aßen hatte wohl nichts mit der Außergewöhnlichkeit der italienischen Küche, die natürlich trotzdem nicht in Abrede zu stellen ist, zu tun, sondern mit der Gemütsruhe, die Sie fanden und die Ihnen die normale Ausübung dieser Tätigkeit wieder erlaubte. Ich vermute, ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, dass Sie hier, ähnlich wie ich, nicht die Dichte an für Sie persönlich interessanten Personen vorfanden, die Ihnen z.B. in Berlin aufgedrängt wurde. Ich möchte schon sagen: Ich glaube an Ihre Flucht in eine zeitweise Normalität, die sie versucht haben, sich anzueignen und dann aber wohl doch nicht ausgehalten haben. Das weiß ich alles nicht. Aber ich denke mir schon, dass was Ihnen diese Zeit hier so angenehm machte, ebenfalls Haferflocken, die Sonne, vielleicht der billige Wein und die Abwesenheit des Sprachzwanges waren und nicht die Ausgelassenheit des Lebens und das Kreischen der Stadt.

Sie setzten sich fort und hatten hier das Privileg der Freiheit von jeglichem institutionellem Streben und sich-lähmen-lassen. Rom ist nicht: institutionell. Auch dieses Privileg weist eine Struktur auf, die sich vielleicht auf andere Leben übertragen lässt, um aus einer Lähmung herauszutreten: Die Flucht, wie ich es nannte, ist ja eine legitime und gestattete. Das Entscheidende besteht darin, dass Sie sich von den Orten ihrer ersten Erfolge und ihres Ehrgeizes, den Sie stetig vor sich hertragen mussten, entfernten. Daraus ergeben sich keine niedrigeren Ansprüche an ihre Arbeit, allerdings waren Sie so nicht mehr ständig mit den Menschen und Orten, die diese zuerst formuliert hatten, konfrontiert. Und insofern ich Sie bis jetzt kenne, stelle ich mir vor, dass Sie ihre Arbeit schon ganz gut intrinsisch motivieren konnten und also die Befreiung, die dieser Umzug zur Folge hatte viel größer war als sich der geringere Druck auf sie auf die Qualität ihres Schreibens auswirkte. Offensichtlich trafen sie eine vorbildhafte Entscheidung, doch will ich mit dieser Analyse nicht länger langweilen. Sie können sich vorstellen, inwiefern ich trotzdem versuche, mich selber in Bezug auf diese Struktur zu verorten und darüber nachzudenken, inwiefern es meine Pflicht und mit zweiundzwanzig auch mein Wille ist, mich noch länger an den Orten meines Ehrgeizes aufzuhalten und mich von Forderungen treiben zu lassen. Ganz abgesehen davon, dass ich, anders als Sie, noch überhaupt nicht ansatzweise die Position habe, um mir eine solche Flucht zum Wohle meines denkenden Seins zu erlauben.

Ein Weggehen bedeutet ja oft, anzuhalten bevor es schlimmer wird. Wegzugehen, bevor das Dunkle einem noch näher kommt. Ich wette, ihr Dunkel waren die Menschen, die sie gefunden hatten und liebten. Nicht die Menschen selbst, aber ihre Zustände der Trauer und Haltlosigkeit. Es ist ja nicht ausgeschlossen, dass auch Sie mitunter diese Gefühle hatten und dass der Umgang mit ihren nächsten Freunden wie ein Blick in den Spiegel an einem schlechten Tag war. Von einer zeitweisen Entfernung erhofften Sie sich ihre eigene Kräftigung und ebenso eine Genesung aller, die den nächsten Winter nicht ebenso erdrückend werden ließ. Aber diese Rechnung, so kann ich sagen, erscheint zwar sinnvoll und vielleicht sind Sie auch zu einigem mehr in der Lage als ich, doch geht sie sich nicht aus: Denn hat man vorher einmal andersherum gefragt, was man denn sei ohne dieses Andere? Sei es auch noch so dunkel, sei es noch so still und vergraben, es ist doch der feste Boden und alle Freude. Insofern fürchte ich mich langsam vor dem Augenblick, indem mir dieser Rechenfehler verständlich wird. Und ich frage mich, wie Sie seine Entdeckung herauszögerten. Waren sie überhaupt in der gleichen Weise allein, wie ich es bin? Waren sie konsequent und gewillt, für sich selbst zu verweilen? Man hörte ja, dass Sie nie Probleme hatten, Gesellschaft zu finden. Ich könnte es zwar nicht nachempfinden, aber es ist ja schon möglich, dass Sie auch hier in Italien auf diese Art und Weise nach Rettung suchten. Ich denke, Sie wussten schon selber, dass diese auf Dauer nicht zu haben war,  aber offenbar erlagen sie schon immer dem Glauben, dass zeitweilige Anker das unendlich Haltlose erträglicher machten.

Als Sie jedoch ahnten, dass Seelenruhe an jedem Ort der Welt auf sich warten lässt, haben Sie dann in Erwägung gezogen, das Spiel der Einsamkeit hier wieder zu unterbrechen? Haben Sie sich einen Mann mitgebracht? Oder gibt es mehrere Italiener, von denen ich nichts weiß? Ich würde das gerne wissen, weil ich mir diese Frage von Anfang an stelle, wie diese Dinge zu handhaben sind. Ich habe das Gefühl, dass, würde ich jemanden zu mir lassen, sich alles verändern würde, wäre dieser jedoch eine ernsthafte Angelegenheit, könnte ich ihn vielleicht dauerhaft überzeugen, wenn er nur einmal sähe, wie ich hier ihr Leben lebe. Wie ich mit mir selber spiele. Wie ich mich versuche, auszuhalten.

Was dazu geführt hat, dass ich jetzt angekündigt habe, dass ich zurückkomme, wenn ich traurig bin. Das habe ich hoch und heilig versprochen. Nicht öffentlich zwar, aber man weiß schon, was ich meinte. Es haben einige schon eine gewisse Schwere bemerkt, die ich mit nichts füllen, aber auch nicht verbergen kann.

Alles spricht dafür, dass ich mir schon gefalle in dem Bild, das hier sich zeigt, das ist auch der Grund, einen Hut zu tragen. Und alles spricht dafür, es ist gefallen, das Bild, weil ich es nur noch sehr zögerlich nachbessern kann und weil ich inzwischen so hier sitze, mit mir und mein Körper mir mehr und mehr Instrument und nicht Selbstzweck wird. Ich beobachte seine Funktionen und ich bin gut zu ihm, aber glänzen tut er nicht mehr. Wann kamen Sie an diesen Punkt, sich in dem Alleinsein nur noch in ihren Taten wahrzunehmen und nicht mehr an ihrem öffentlichen Auftreten, ihrem Sprechen, ihrem Lachen? Wieder kann ich mir vorstellen, dass diese Ablösung Sie sehr glücklich machte. Dass Sie das Fehlen all dieser Dinge, die für andere Menschen Freuden und sogar raison d’êtres darstellen, überhaupt nie als Mangel empfanden, sondern als eine große Erleichterung. Jetzt wählten Sie ihre Kleider nicht mehr als das Zwischen, das sie diesen Männern näherbrachte oder fernhielt sondern dieser Körper war plötzlich nicht mehr als ein Körper, der arbeitet. Er stand Ihnen jetzt ganz und ohne Abstriche zur Verfügung, war nur noch ein Schreibender und wurde von Ihrem Geist mit niemandem geteilt.

Doch hätte man Sie hier gesichtet, man wäre augenblicklich verfallen und hätte Sie auf brutalste Weise als Inventar dieser Stadt eingepflanzt und unrechtmäßig erklärt, dass Sie nun endlich ihren Platz gefunden haben. Weil Sie einfach zu schön sind in ihrem Alleinsein, man möchte Sie in seinem Garten umherspazieren lassen. Und man ließ Sie nicht entkommen.

In Hochachtung,

ihre
E.v.G.

Fixpoetry 2014
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge