Wie ich zum Schauspieler wurde
„Das ist ein Schauspieler“, sagte mein Vater. Ich schaute mir den so Bezeichneten an, der eigentlich gar nicht wie ein Schauspieler aussah. „Und der erst recht“, wies er mich auf den nächsten hin. Offenbar waren im Betrieb meines Vaters sehr viele Schauspieler beschäftigt. Bedauerlich nur, daß es eine Chemiefabrik war und kein Theater. Was hätte man nicht alles mit diesen Schauspielern auf die Bühne bringen können: Shakespeare, Goethe, Trieder. So verbrauchten sie sinnlos ihr Talent damit, meinem Vater vorzumachen, sie hätten von irgendwas eine Ahnung. Mein Vater ließ sich jedoch von ihrem Schauspiel nicht beeindrucken. „Der will Elektriker sein“, kommentierte er die Leistung eines Kollegen bei der Verkabelung eines Schaltkastens, „was für ein Schauspieler“.
Manchmal witterte mein Vater auch bei mir Ansätze zur Schauspielerei. Zum Beispiel, wenn ich versicherte, daß ich bereits ausreichend für den anstehenden Mathematiktest geübt hätte. Tatsächlich war ich im Schauspiel um einiges talentierter als in der Mathematik. Meine erste und einzige väterliche Kopfnuss – die er zwar von Herzen bereute, aber aus purer Entrüstung erteilte – bekam ich, als ich ihm übers Wochenende vorgegaukelt hatte, ich hätte meine Mathematikaufgaben erledigt, und dann am Sonntagabend angeschlichen kam mit der Bitte, ob er mir nicht dabei helfen könne. Die Kopfnuss setzte es aber erst, als mein Vater begriff, wie begriffsstutzig und obendrein unwillig, um nicht zu sagen dämlich ich mich dabei anstellte, eigentlich noch viel dämlicher, als mein Vater es sich überhaupt vorstellen konnte. Hatte ich ihm doch wenigstens als mathematische Durchschnittsintelligenz gegolten. Das glaubhaft dargestellt zu haben, eine reife Leistung als Schauspieler. Weitere Höhepunkte meines Schaffens waren dann noch etliche Krankschreibungen und schließlich mein Abitur. Und nun das!
Simone Trieder schrieb ein Stück über den Barockdichter Christian Reuter und ich sollte darin die Hauptrolle übernehmen. Meine einzige Qualifikation für diese Rolle war der gleiche Vorname. Ich kann mir keinen Text merken, nicht mal den meiner eigenen Gedichte. Manchmal nuschele ich, wie schon meine Oma festgestellt hatte, sobald ich Dinge sagte, die sie nicht hören wollte. Und wie ein Schauspieler einfach so weinen kann, ohne mit einer frischen Zwiebel nachzuhelfen? Klar, was mein Vater nun dazu sagen würde, daß ich demnächst tatsächlich als Schauspieler auftrete, ein vernichtendes: „Du Schauspieler.“ Ich habe es ihm lieber nicht verraten. Wenn ich schon ins Rampenlicht treten soll, wollte ich so wenige Zeugen wie möglich haben. Und wer, der mich kennt, würde sich auch nach Kütten verirren? Manche verstehen beim Aussprechen des Ortes zum Glück nur Köthen und wären auf der Suche nach dieser Theaterveranstaltung schier verzweifelt.
Ob Kütten überhaupt existiert? Für die Hallesche Presse offenbar nicht. Der Ort liegt im Nirgendwo zwischen dem Petersberg und Halle. Wie oft hat Simone versucht, jemanden zu gewinnen, der über diesen Flecken und seine emsigen, das kulturelle Erbe bewahrenden Bewohner ein liebevolles Portrait schreibt. Aber niemand will nach Kütten. Diese Abneigung ist nicht ganz unbegründet. Wer sich von der einen Seite nähert, befährt eine schmale Pflasterstraße, die die Schrauben aus dem Fahrwerk rüttelt. Seitlich zieht sich ein Wald, in dem Wildschweine lauern. Oder es drohen Rehe, die wie irr vom Feld zurück in den Wald oder gleich direkt ins Scheinwerferlicht des Wagens stürzen. Und wer sich von der anderen Seite herantraut, muß der olfaktorischen Herausforderung trotzen, die der Recycling-Hof Tönsmeier verströmt, der von sich in großen Lettern an der Hallenwand sagt, „Wir holen das Beste raus“. Das Schlechteste blieb anscheinend hier zurück. Es folgt eine asphaltierte, nicht minder schmale Straße, die keine zwei Autos nebeneinander erlaubt. Und sobald der erste Nebel aus den Niederungen aufsteigt und plötzlich aus dem Nichts ein Küttener herangebraust kommt, werden einem die Vermeidungsstrategien der Presse verständlich. Wer möchte schon sterben für einen Artikel über Kütten.
Oft saß ich nun einsilbig neben Simone im Auto. Rechts und links der Straße rauschten Apfelbäume und anderes Obstgehölz vorbei. Simone guckte so gierig mit pawlowschem Reflex nach den Bäumen, daß ich dachte, gleich würde sie die Kontrolle über den Wagen verlieren. Was dort hing, schleppte sie nach und nach in ihr kleines, rotes Auto. Als freiberufliche Autorin ist sie mit dem Eichhörnchen verwandt. Im Herbst liegen auf dem Fußboden ihrer Wohnung, ausgebreitet auf Zeitungen, kiloweise Nüsse. Obst wird getrocknet oder eingekocht, manchmal vergoren und zu Schnaps gebrannt. So kommt die Dichterin durch den Winter.
Die Sonne warf sich nochmal mit einem letzten Rot in Schale, bevor wir in Kütten eintrafen, zum Proben. Zusammen mit fünf Küttenerinnen und zwei Küttenern. Ich weiß nicht, welcher Tebel mich geritten hat. Immerhin war ich von der Last enthoben, den Text auswendig zu lernen. Wir bekamen das Manuskript in die Hand und durften es als szenisch spielerische Lesung einstudieren. Simone, als Regisseurin des eigenen Stücks, war nun etwas um die Nüchternheit ihrer Darsteller besorgt. Etwas Bühnenwasser landete immer auf dem Tisch, ob Glühwein, Amaretto, Sekt. Und bevor alle unter dem Tisch landeten, scheuchte sie uns auf die Bühne.
Man sollte wissen, daß Simone lange fürs Theater gearbeitet hat, als Regieassistentin und Regisseurin. Schon allein, daß ich mich von ihr breitschlagen lassen habe, bei diesem Projekt mitzumachen, zeigt ihre Eignung fürs Theater. Sie kann Leute dazu bringen, das zu tun, was sie sich vorstellt. Ähnlich dem Feldherren, der auf seine zusammengewürfelte Truppe schaut und eine Schlacht schlagen kann. Unter der Führung von General Trieder standen also acht Laien in Kütten auf den Brettern, die das Dorf bedeuten. Allesamt Theateranfänger. Aber richtig schlimm sind immer diejenigen, die trotzdem besser als der Regisseur zu wissen glauben, wie sie zu spielen und vorzutragen haben. Schließlich lese ich schon seit Jahren meine eigenen Texte dem Publikum vor und weiß deshalb ganz genau, wie das geht. Da soll mir doch Simone nicht mit ihren blöden Vorschlägen kommen. Irgendwann rief ich laut, als Simone wieder was an meinem Sprechduktus auszusetzen hatte, daß ich kein Schauspieler sei, sondern Lyriker. Und die Küttener redeten beruhigend auf mich ein, „das wird schon, Christian. Auch ein Lyriker kriegt das hin.“ Warum Theaterprojekte ebenso für schwererziehbare Jugendliche gut sind, liegt also auf der Hand.
Der große Tag nahte. Es wurden viele wichtige Leute eingeladen, Germanisten, Vertreter der Landesregierung und die hallesche Presse. Sorgen machen, daß einer von ihnen tatsächlich käme, mußte ich mir zu Glück nicht. Voll wurde der Saal trotzdem. Denn es gab Bier und im Anschluß war Tanz angekündigt. Für Vergnügen würde also gesorgt sein. Daß die Zapfanlage zu Anfang streikte, was zur allgemeinen Zapfanlagenklage führte, provozierte noch eine erhebliche Verzögerung unseres Auftritts. Immer wieder wurde um weitere fünf Minuten gebeten, und die Spannung stieg, bis jeder sein Bier hatte und endlich ... Es war ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber ein großer für mich. Ich betrat die Bühne.
Was nun geschah? Etwas Einmaliges. Denn es wird wohl keine zweite Aufführung geben. Ich hülle mich in bescheidenes Schweigen, da bekanntlich Eigenlob mindestens so stinkt wie die Ausdünstungen der Recyclinganlage von Tönsmeier.
Es gab, so viel sei doch gesagt, am Ende einen riesigen Applaus. Und dann kam eine Vertreterin der Dorfgemeinde auf die Bühne. Sie überreichte Blumen und bedankte sich offiziell bei Simone, wie toll sie das Stück auf die Beine gestellt habe, mit sieben Laiendarstellern aus Kütten und, da fiel nun die Formulierung vor allen Leuten, „einem Schauspieler aus Halle“.
Es war ja auch alles verwirrend und nicht wirklich zu verstehen, warum ein Schriftsteller ausgerechnet schauspielert, wenn er kein Schauspieler ist. Zugegeben, besonders gut werde ich den Christian Reuter nicht geschauspielert haben, dafür einen halleschen Schauspieler, der den Christian Reuter geschauspielert hat, mit Bravour. Schwieriger wäre es sicher gewesen, einen Hamburger oder Berliner Schauspieler hinzubekommen, aber den Halleschen Schauspieler mimte ich mit links.
Danach ging ich sehr schauspielerisch an die Bar, bestellte mein Freibier für den Schauspieler, und bedauerte es fast, meinen Vater nicht nach Kütten gelotst zu haben, damit er nun mit seinem Sohn, dem Schauspieler, auf die gelungene Premiere ein Glas leert.
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