Brief aus Berlin [35]
Madame Schoscha lebt jetzt schon eine Weile in Barcelona. Ihr alter Bekannter, Herr Altobelli, weiterhin in Berlin. Beide leben sie in einer ganz eigenen Zeit. Und dennoch in dieser Welt, worüber sie sich gegenseitig berichten. Sie schreiben sich Briefe. Im monatlichen Wechsel flattert ein Brief aus Berlin oder Barcelona herein und vereint die aktuelle, kulturelle Erlebniswelt der beiden. Ganz wie im gleichnamigen Kultursalon Madame Schoscha, der sich mehrfach im Jahr an wechselnden Orten zusammenfindet, geben sich die beiden Auskunft über ihre Entdeckungen aus Kunst und Alltag.
Wind und Vision
Oh ja, Madame, ja!
Mein Referendum ist entschieden: auf tausend Zeilen müssen mal wieder Taten folgen! Vor einigen Tagen hat sich ein Schalter umgelegt und seitdem erlebe ich mich ungebremst in einem affirmativen Wahn. Bitte sehen Sie mir nach wenn ich Sie damit jetzt ungewohnt überrolle. Ich habe einen Flug nach Barcelona gebucht! Anfang September. Wie diese Impulskette ihren Anfang nahm kann ich nicht mehr genau herleiten. Es hatte sicherlich auch mit einer Unlust zu tun, mir die übersandte Flaschenpostkorrespondenz und die Erinnerung an Ihre alte argentinische Liebe zu Gemüte zu führen. Da aber gleichzeitig meine Neugier auf einen weiteren Ausschnitt Ihres Seelenmosaiks nicht weniger stark geworden ist, beschloss ich, ein gutes Setting dafür zu suchen. Mir war nach einer echten Luftveränderung und so bin ich spontan zu einem verlängerten Wochenende an die Ostsee aufgebrochen.
Wie sich schnell herausstellen sollte, waren die leeren Strände Usedoms in der Nebensaison der richtige Ort für mich. Schon mein erster Strandspaziergang wollte sich endlos ausdehnen. Unter bewölktem Himmel stapfte ich barfuß gegen den Wind. Zunächst von irgendwas weg. Berlin, EM, Brexit, ungeöffnete Briefe und wieder Terror. Biografie und Fußnoten waren für den Moment weggeblasen. Aber ich lief auch auf etwas zu. Noch nicht klar zu orten.
Von der Schrittlänge und Stimmung können Sie sich „The limit to your love“ von Feist als Audiospur dazu denken:
„I know, I know, I know
that only I can save me
I go, I go, I go
Right down the road.“
Irgendwann stand ich in Ückeritz an der Stelle, wo laut der Legende der Freibeuter Störtebeker auf das Signal seiner Geliebten unbemerkt anlanden konnte, um seine geraubten Schätze zu verstecken. Plötzlich kam es mir so vor als wäre ich schon viel zu lange draußen auf See und würde auf Ihr leuchtendes Signal warten, Madame. Beim Klabautermann, der Wind würde mich schon tragen, auch ohne Feuerräder, an die Küste von Barcelona!
Der nächste Ausflug führte mich zum Seeheilbad Bansin. Dort kam mit dem Wegweiser zum Hans-Werner-Richter-Haus eine Bildungslücke um die Ecke. Vom Initiator der Gruppe 47 hatte ich kein einziges Buch gelesen. Einige seiner Titel klangen nach der Kommentierung aktuellen Zeitgeschehens. Deine Söhne, Europa. Die Stunde der falschen Triumphe. Sie fielen aus Gottes Hand. Beim Überfliegen der Buchrücken wurde ich von einer freundlichen Mitarbeiterin auf die nahende Schließzeit der Gedenkstätte hingewiesen. Mein neuer Taktgeber Tatendrang behielt Oberwasser. Aus der Ecke mit dem Nachlass der ebenso dort ausgestellten Publizistin Carola Stern folgten mir zwei junge Europäerinnen Richtung Ausgang. Eine der beiden rezitierte begeistert ein englisches Gedicht mit italienischem Akzent. Die andere hing ihr liebevoll an den Lippen und kommentierte französisch. Mein neugieriges Interesse mit deutschem Akzent blieb nicht unentdeckt. Es sei ihr Lieblingsgedicht von T.S. Eliot. Die Eröffnungszeile beinhaltet die Keimzelle für jeden Road Movie:
„Let us go then, you and I,“
(…)
Die beiden waren befreundete Filmemacherinnen auf Recherchetour. Isa&Joanne. Good luck! We are Europe. Bei den folgenden Zeilen war ich wieder ganz bei Ihnen, Madame:
tea and cake, Illustration: Larisa Lauber
„Should I, after tea and cakes and ices,
Have the strength to force the moment to its crisis?“
(The Love Song of J. Alfred Prufrock, T.S.Eliot)
Yes, ich würde auch riskieren bei Ihnen oder mit Ihnen zu scheitern. Ich verspreche mir eine spürbare Erfahrung, um endlich aus dem ewigen Möglichkeitskreisel auszutreten. Ja, im besten Fall erhoffe ich mir eine uneitle Antwort auf die Frage, wer oder was wir füreinander sind.
Ob die meisten Brexit-Befürworter auch bewusst etwas riskiert haben? Es heißt die Alten haben die Zukunft der Jungen aufs Spiel gesetzt. Altersweisheit und Trotzphase erfahren hier eine erstaunliche Umkehrung. Die Tücken der direkten Demokratie bei komplexen Fragen sind jetzt offenkundig. Bin gespannt zu hören wie in Spanien darüber diskutiert wird.
Ich fühlte mich nun bestärkt und sortiert genug, um Ihren nostalgischen Briefwechsel im abendlichen Rauschen der Brandung zu lesen. Sie waren bereit gewesen auf einem anderen Kontinent ein neues Leben zu beginnen. Nicht ohne eine Spur von Eifersucht tauchte ich ein in Ihre lebhaften Beschreibungen von Intensität und Leichtigkeit. Mir kam der Gedanke: vielleicht passiert das nur einmal im Leben. Aber er ging auch wieder.
Nach Berlin zurückgekehrt versuchte ich meine kleine Wehmut über den schnell zu Ende gegangenen Ausflug an die Küste mit einem passenden Film aufzufangen. Ich hatte die Französin nicht ohne eine besondere Empfehlung ziehen lassen. Die wundervoll gestalteten Animationen von Juri Norsteins „Hedgehog and the fog“ sind im Zusammenspiel mit der beruhigenden russischen Erzählerstimme ein Seelchen von Film.
Mir gefällt die Vision, dass wir wie der Igel und der Bärenjunge, im Alter gemeinsam Tee trinkend die Sterne zählen. Nicht nur die am Himmelszelt sondern auch die immer noch zahlreichen auf Europas Flagge. Und dass wir uns ohne Scham erzählen können, warum wir uns mal eine Weile verloren haben, bei der Suche nach dem weißen Pferd im Nebel.
Jetzt bleibt mir nur Leonard Cohen aufzulegen und zu hoffen, dass Sie im September nicht auf Reisen sind, wenn ich bei Ihnen an der Tür klingel.
„Ring the bells that still can ring
Forget your perfect offering
There is a crack in everything
That’s how the light gets in.“
(Anthem, L. Cohen)
Ihr Altobelli
PS: Beigefügt erhalten Sie eine Illustration der Berliner Künstlerin Larisa Lauber. Sie ist eine große Verehrerin von Juri Norstein und hat meinen Brief wieder um eine wunderbare Dimension erweitert.
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