Brief aus Jerusalem [42]
Madame Schoscha lebt jetzt schon eine Weile in Barcelona. Ihr alter Bekannter, Herr Altobelli, weiterhin in Berlin. Beide leben sie in einer ganz eigenen Zeit. Und dennoch in dieser Welt, worüber sie sich gegenseitig berichten. Sie schreiben sich Briefe. Im monatlichen Wechsel flattert ein Brief aus Berlin oder Barcelona herein und vereint die aktuelle, kulturelle Erlebniswelt der beiden. Ganz wie im gleichnamigen Kultursalon Madame Schoscha, der sich mehrfach im Jahr an wechselnden Orten zusammenfindet, geben sich die beide Auskunft über ihre Entdeckungen aus Kunst und Alltag. Seit Kurzem entsteht eine neue Briefverbindung im Osten zwischen Kosen Myo aus Jerusalem und Alissa Salzman aus Moskau. Die beiden haben sich in Berlin durch Madame Schoscha kennengelernt. Dieses Mal, unterwegs durch die Wüste mit ihrem Bruder, findet Kosen in Ihrem Bauchnabel den Mittelpunkt ihrer Schwerkraft.
Illustration: Elena Ponz
Liebe Alissa,
Tausend Dank für Deinen Brief, geknüpft aus Worten, unter denen ich Dich nach und nach entdecke!
Ich schreibe dir heute aus einem Kloster am Rande der Welt. Meine Zelle ist schlicht und begrenzt, sie ist schmucklos und riecht nach wilden Senfblüten, die ich am Morgen gepflückt habe. Ich mag es auf ihren Blättern zu kauen, Sinapsis Anversis, Ackersenf mit wachen Geschmacks- und Geruchsnerven: auch mein Gehör ist wach, in meinem Kopf tönt In the mood for Love von Shigeru Umebayashi.
Judäische Wüste: das russisch-orthodoxe Kloster von San Hariton in Wadi Qelt und Detail einer benachbahrten Höhle. Fotos von María Castro.
Doch ich bin nicht allein, Alissa – mein Bruder Esei ist bei mir. Wir lieben es sehr früh aufzustehen und endlos durch diese Gegend zu wandeln, hier unter dem Meeresspiegel. Was nun Wüste ist, war ehemals alles Meer, weitreichend und sehr tief – nun bleibt bloß eine Erinnerung an jene Zeiten: ein totes Meer. Mir scheint die Verknüpfung dieser beiden Worte ein Widerspruch in sich: das Meer, die Quelle und der Ursprung des Lebens, und dann der Tod. Eine interessante Metapher, denn der Tod vollendet notwendigerweise den Zyklus des Lebens , damit es sich beständig erneuern kann. Im Arabischen heißt es البحر الميت al-Bahr al-Mayyit, Totes Meer; im Hebräischen jedoch יָם הַמֶּלַח , Salziges Meer, Yam Hamelaj… Und ich schwebe, die Füße gestützt auf eine riesige Wassermelone, ich versenke sie mit meinem Gewicht und meiner Kraft gegen die Dichte dieses unmöglichen Meeres. Ein Balanceakt, bei dem die Schwerkraft und der Dichte des Wassers ein Flaschenzug für mich ist. Meine Arme kreuzförmig ausgebreitet wie Christus und meine Füße dem Himmel zugewandt, wie die Jungfrau Maria…Es gibt eine Skulptur am Campus von Givat Ram an der Hebräischen Universität von Jerusalem, die bei meinen Spaziergängen immer wieder meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Es ist eine kleine Bronzestatue, ein Mädchen in der Pubertät, gestützt auf eine Art Globus dicht über dem Boden. Sie ist kleiner als ich und ein Ring von Wasser umgibt sie. Ich fühle mich ihr nahe und betrachte ganz eindringlich ihre Hände – forsche den künstlerischen Details nach – berühre ihre Finger, sehe ihr kurzes und zerzaustes Haar. Sie ist nackt und ruft mich auf, das Wunder zu betrachten… aus ihrem Bauchnabel schießt ein Wasserstrahl, sie ist der Brunnen, SOURCE!
Eine Szene aus dem Video Standing on a Watermelon in the Dead Sea und der Brunnen Stranded on a Watermelon in the Dead Sea. Beide Kunstwerke und Fotos von Sigalit Landau https://www.sigalitlandau.com/
Esei und ich nehmen gerne eine Pfanne mit, dazu Mehl, Wasser und Tahini, falls uns der Hunger in den Felsschluchten dieses nasstrockenen Landes überwältigt. Wir machen Feuer und erhitzen unsere Pfanne verkehrt herum. Esei bereitet den Teig für die Pitas zu und ich sehe, dass nichts vergessen wurde. Mit Zitronensaft, Knoblauch, Salz und Wasser verwandeln wir die Tahini-Paste in trjina. Am Anfang, wenn man Tahini mit Wasser verrührt, ist die Mischung dickflüssig, man darf aber noch nicht aufhören, es ist ein Balanceakt. Wie der Augenblick, wo ich glaube von der Riesenwassermelone zu fallen und Angst bekomme. Dann denke ich: „Wenn ich dieses Wasser ins Auge kriege, wird es brennen, sodass ich die Ufer nicht mehr sehe...“ Es gibt Leute, die in diesem ungewohnten Meer umgekommen sind, in diesem Meer, was uns nicht untertauchen, aber ertrinken lässt.
Wenn es klappt, die ölige Mischung in eine wässrige zu verwandeln, verliert das Tahini an Buchstaben und wird von diesem heiligen Wasser zu trjina getauft; dann kommt Zitrone und Salz hinzu, Pfeffer, Knoblauch… alles, worauf wir Lust haben. Die Varianten sind unzählig. Eine Freundin von mir, die in Ein Karem wohnt, Maya Stern, macht eine Variante mit Koriander und Curry. Das erste Mal, als ich es probierte, ahnte ich nicht, dass die Basis Tahini war, mächtiges und veränderliches Tahini der Küche des Mittleren Ostens. In allem was wir tun, bilden unsere Gedanken das Fundament, die unsichtbar sind, weshalb die Atome die vibrierende Evidenz von allem sind, die wissenschaftliche Methode und die Stütze der Wissenschaft. Hier ein Video vom Tahini, untersucht von Professor Shlomo Mgdassi und seiner Gruppe Science, Technology and Applications of Nanomaterials.
Ist heutzutage alles im Nanobereich? Nein, das Moskau-Moloch, der Braunbär Putin und die Stalintürme sind nicht nano; obwohl Putin nicht wie ein Bär scheint. Welches Tier würde ihn wohl eher repräsentieren? Welches Tier bringt den Bären um? Ist Putin glücklich? Wer wird ihn überleben, wenn seine Tage zu Ende sind? Nach Jelzin gab es Putin und nach Putin – der Bär? Ich glaube nicht, dass Putin ruhig schläft... und du liebe Alissa, schläfst du gut?
Verzeih mir diese Überlegungen, ich schreibe dir, als ob du uns auf unseren Spaziergängen begleitest. Wir nehmen unsere Pitas mit Tee ein, aus Kräutern, die wir auf dem Weg gefunden haben, vor allem Salbei. Diese leichten Mahlzeiten erinnern uns an die Glorie, es gibt nichts Vergleichbares, als freie Luft zu sich zu nehmen. Wobei das hier bloß eine Redensart ist, die ich ein andermal erkläre.
Jetzt würde ich lieber von meinem Bruder sprechen. Ich bin erstaunt von Esei, denn er ist nicht von hier, bewegt sich aber trotzdem wie ein Fisch im Wasser in diesen Breiten. Wenn er mich besucht, zeigt er mir Gegenden, die so nah und zugleich so fern und unerreichbar im täglichen Leben sind, vielleicht so wie dein Großonkel, der dich durch Antiquitäten und vergessene Bibliotheken schleift…
Vielleicht denkt man anderswo, dass es hier in Jerusalem und in Israel insgesamt nur gutes Wetter gibt. Eines ist aber sicher, wie ich dir im ersten Brief berichtete, die Kälte und die Regenschauer. Ja hier regnet es auch, und es ist nicht so schlimm, denn es passiert selten, aber wenn, dann geht das Land langsam unter. Treffen werden abgesagt, die Menschen verstecken sich in den Häusern und lassen den Regen umherwandern, bis er ermüdet. Der Regen braucht seine Zeit um herauszufinden, wohin er verschwinden soll, das Kanalisationssystem ist dem Phänomen nicht gewachsen und die Straßen laufen über, als befänden wir uns plötzlich in einem asiatischen Monsun. Ich gebe zu, Alissa, dass ich deswegen auch nie einen Regenschirm gekauft habe. Aber der würde mir nicht weiterhelfen, denn mit dem Regen kommt der Wind, der mich von vorn erfasst und meinen Regenschirm nach außen stülpt, dort am Damm von Tel Aviv.
Bei der Rückkehr nach Jerusalem, fragt die Frau im Laden am Zentralen Omnibusbahnhof ziemlich beißend, was ich denn mit meinem Schirm angerichtet habe. Und obwohl ich ihn am Ende gegen einen neuen eintauschen kann, kommt es mir teuer zu stehen. Ich entscheide mich für einen neuen vom gleichen Modell, doch diesen werde ich nicht im Regen verwenden, das ist der Schirm für zu Hause. Ich mag ihn sehr; er trägt Bilder vom Eifelturm und das Wort love in seinen Verästelungen, es ist mein Liebesamulett in dieser Stadt. Ich würde die gerne Handschuhe der gleichen Art Liebe stricken, damit alles, was du in Moskau berührst, mit love ertönen würde. Ich stelle mir vor, dass russische Liebe nach heißem Tee schmecken muss, nach deinem Lieblingstee und nach dem Ort, wo du ihn am liebsten trinkst. Was sage ich! Ich weiß, du lässt mir das alles durchgehen.
Zusammen mit diesen Handschuhen schicke ich dir auch einen Schal, der dich umhüllt und deine Lippen schützt, der sie liebkost und sie mit Russian Love füllt. Was ist deine Lieblingsfarbe? Ich erinnere mich an dich in Blau, bin aber nicht sicher. So sähe ich dich gerne. Wenn du dir das nächste Mal die Beine rasierst, lass mich dir bitte helfen – jedes Mal, wenn du dich schneidest, brennt es bei mir. Ich vermisse dich… hier inmitten meiner Wüste; Salz, Leben, Tod und die Wassermelone.
Haiku
Ich zähle die Wahrheit und die Andenken.
Erinnerung zeichnet im Rauch
Träume, die nicht hierher gehören
Notiz: das Israel-Museum
My Hero SIGALIT LANDAU every single work is a SOURCE! I am deeply THANKFUL!
!תודה רנה (Danke schön!)
Apropos Wassermelone: ich würde diesen Brief gerne mit einem Geschmack abschließen, Geschmack aus deiner Kindheit zwischen den russischen Bergen und den Betonbauten. Wie wäre es mit einem Russian Delight Watermelon Pickle? Du spürst es auf der Zunge, der maskulin-femininen Zunge, der englisch-deutsch-russischen Zunge, der physisch-körperlichen Zunge. Fühle die schwarzen Kerne zwischen den Zähnen, spucke sie aus oder kaue sie oder schlucke sie runter, ohne es zu merken. Die Zunge macht keine Geschlechtsunterschiede, es gibt nur eine und sie ist für jeden ein und dieselbe.
Es gibt keine wissenschaftliche Evidenz für Unterschiede zwischen Zungen. Wenn du dir dessen bewusst wirst, ist die Zunge ein Neutrum, ein friedliches Territorium. Wenn Zungen sich berühren, gibt es nur den Kuss! Wir mögen es, Gegensätze aufzubauen, da es ein Teil von uns ist, doch, mein liebes Käferchen Alissa: Females have penises and males Vaginas.
Mit vielen Küssen sende ich dir die Reflections on a Gift of Watermelon Pickle Received from a friend Called Felicity
„During that summer
Which may never have been at all;
But which has become more real
Thant he one that was
Watermelons ruled.”
(Rechts) Die Wassermelonen von Sigalit Landau im Toten Meer “Generations of Israeli artists have made watermelon a striking visual symbol of Hebrew culture” Zitat Shany Littman in Haaretz. (Links) Eingelegte Wassermelone, eine russische Delikatesse.
Haaretz: Watermelon, Fruit of the Land (And of Art)
extra slaw: Pickled Watermelon, A Russian Delight
Liebe Grüße,
Kosen.
P.S.: Würde dir gerne Or Denemark, Alex Hill und Sigalit Landau ans Herz legen; sie haben mir sehr bei diesem Brief geholfen.
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