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Kritik

Familie als Schicksal

Hamburg

Als ich in jenem Sommer meine Sachen in einer unansehnlichen, schlauchartigen Studentenbude in Oegstgeest unterbrachte, konnte ich nicht gerade auf eine harmonische Jugend zurückblicken.

Dieser Satz aus dem im letzten Drittel des Romans von Alexander Münninghoff, Der Stammhalter ist eine einzige Untertreibung und beschreibt gleichzeitig den unaufgeregten Stil des Autors, in dem er seine ausgesprochen dramatische Familiengeschichte erzählt. Auf der Rückseite des Covers wird David Van Reybrouck (Kongo) mit dem Satz zitiert, Der Stammhalter sei Hundert Jahre Einsamkeit aus dem Niederlanden; und tatsächlich beschreibt der Roman in epischer Breite die Geschichte einer Familie über mehrere Generationen mit all ihren Irrungen und Wirrungen. Da der Autor neben den Hauptprotagonisten gleichzeitig zahlreiche (auch entfernte) Verwandte, Bekannte und nicht zuletzt Politiker berücksichtigt, zeichnet er ein beeindruckendes Bild der Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart.

Auf der Vorderseite des Covers steht ein rauchender älterer Herr, der seinen Arm um die Schulter eines kleinen Jungen in Matrosenanzug legt. Dieses eigentlich harmlos erscheinende Foto des jungen Alexander Münninghoffs mit seinem Großvater Johann (genannt Joan) Münnighoff muss man nach der Lektüre des Romans allerdings als Symbol des besitzergreifenden Anspruchs eines Großvaters auf seinen Enkel lesen.

Denn die Rolle, in die Alexander hineingeboren wird und die lange sein Leben bestimmt, ist die eines Stammhalters für seinen ehrgeizigen und nicht immer mit legalen Mitteln zu enormen Reichtum gekommenen Großvater.

Vor dem ersten Weltkrieg siedelte sich Joan aus ökonomischen Überlegungen in Lettland an, unterstützte finanziell den Wahlkampf des Präsidenten Karl Ulmanis, woraufhin er sich mit dessen Hilfe bald zu einem Tycoon hocharbeitet. Er heiratet eine russische Gräfin und ab dieser Zeit gibt es in der Familie sprachliche und nationale Auseinandersetzungen. Denn trotz allem möchte Joan, dass seine Kinder niederländisch erzogen werden, was ihn mit seinem Sohn Frans, dem Vater des Autors, früh in große Konflikte treibt, weil Frans alles Niederländische ablehnt, für Deutschland schwärmt, die deutsch-russische Wera heiratet, sich der SS anschließt und für die Nazis in Russland kämpft.

In diesem Wirrwarr wird 1944 Alexander während eines Bombenangriffs in Posen geboren. Er hat eine deutsch-russische Mutter und einen Vater, der später bei einer Anklage wegen SS-Zugehörigkeit seine deutsch- lettisch- niederländischen Nationalitäten ins Spiel bringt.

Joan siedelt nach dem Hitler-Stalin-Pakt wieder in die Niederlande über, baut auch hier ein Wirtschaftsimperium auf und ist damit beschäftigt, Frans Nazi-Vergangenheit unter den Teppich zu kehren und die Familie in seinem Sinne zu beherrschen.

Besonders wichtig ist ihm dabei, Enkel Alexander ohne dessen Mutter Wera unter seine Fittiche zu nehmen. Es kommt zur Scheidung und zum Kampf um das Sorgerecht. Daraufhin überstürzen sich die Ereignisse. Wera flieht mit ihrem Sohn nach Deutschland und Joan schreckt nicht davor zurück, Alexander durch Handlanger beim Spielen betäuben und zurück in die Niederlande zu seinem an ihm überhaupt nicht interessierten Vater Frans bringen zu lassen. Wera, schon immer wenig kämpferisch veranlagt, gibt ihren Sohn auf und es vergehen achtzehn Jahre, ehe sich Mutter und Sohn wiedersehen.

Diese hier verkürzt wiedergegebene Geschichte, ist so voller unglaublicher Facetten, die einerseits viel über die damalige Zeit aussagen und gleichzeitig tiefe Einblicke über Ursachen von menschlichem Verhaltensweisen geben. Alexander Münninghoff erzählt diesen komplexen Inhalt spannend und gleichzeitig erstaunlich sachlich. So wird beispielsweise der Großvater keineswegs nur negativ geschildert, sondern der Autor zeigt ihn in dessen ganzer Zwiespältigkeit. Er ist ein Mensch, der mit Hilfe seiner erzkatholischen Seilschaften so manches illegale Geschäft abwickelt, sich während der Besatzungszeit gegenüber den Nazis mit der SS-Mitgliedschaft seines Sohnes brüstet und gleichzeitig Verfolgten Unterschlupf gewährt. Auch gegenüber seiner Mutter, der er lange vorwirft, ihn nicht gesucht zu haben, versucht der Autor gerecht zu sein. Neben seiner Ehefrau hat er Wera den Roman gewidmet.

Alexander ist in einsames Kind. Vor allem kann er nicht auf seinen nichtsnutzigen Vater zählen, dem in seinem Leben überhaupt nichts gelingt.

Und so zieht er als Autor eine bittere Bilanz:

Was ich damals nur gefühlsmäßig erfasste, sehe ich heute, während ich dies schreibe, endlich klar: Ich hatte einen Vater, der sich nicht für mich interessierte, der ganz von der Idee besessen war, einmal reicher zu werden, als der Alte Herr – erst dann würde er glücklich sein können.

Wie der Autor auch als Erwachsener mit der Familie verwoben ist und sich nicht von diesem Vater lösen kann, zeigt die unglaubliche Geschichte der Namensänderung seines Sohnes Michiel. Frans regt sich nämlich über den Namen seines neugeborenen Enkels auf und Alexander hält den Streit nicht aus:

Schließlich gaben wir um des lieben Friedens willen nach; per Gerichtsbeschluss ließen wir den Namen in Michael ändern, so dass er nicht mehr niederländisch klang und überall auf der Welt wiedererkennbar war.

Alexander Münninghoff
Der Stammhalter / Roman einer Familie
Übersetzung: Andreas Ecke
C.H. Beck
2018 · 334 Seiten · 19,95 Euro
ISBN:
978-3406727320

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