Neue Kontinente vor keiner Haustür
Überraschend wird dieses Debüt im Klappentext genannt. Wer die austauschbaren Superlative von Klappentexten kennt, erwartet in der Regel alles, nur nichts überraschendes. Das Wort selbst durfte einen Bedeutungswandel erleben, vom plötzlichen Überfall in kriegerischen Auseinandersetzungen noch vor ein paar hundert Jahren zur in der Regel positiv besetzten Überraschung heute.
Überraschend ist tatsächlich sowohl das Sujet als auch die angenehme Abwesenheit von Selbstreflektion in dem Roman „Wie hoch die Wasser steigen“. Anja Kampmanns Protagonist ist ein 52-Jähriger Mann. Er arbeitet auf einer Ölplattform. Und gleich auf den ersten Seiten wird man auf die glitschige schwankende Plattform einer Bohrinsel im Atlantik geführt, in wilder dunkler See. So könnte auch ein Abenteuerroman beginnen mit rauen Gestalten, denen nichts mehr zuwider ist als ein normales gemütliches Leben. Doch die hierher geratene Männer sind weniger auf Abenteuersuche, eher folgen sie den Arbeitgebern von Bohrinsel zu Bohrinsel und von Kontinent zu Kontinent. In Länder, wo andere Urlaub machen. Doch sie sehen nichts davon. Langen körperlich harten Schichten folgen Ruhephasen, in denen sie nichts mehr wollen als schlafen oder sich auf verschiedene Weise betäuben. Arbeitsnomaden, die ursprünglich ordentlich Geld verdienen wollten, um zu leben. Doch das Leben ist ihnen abhanden gekommen.
Den Helden Waclaw schleudert der Tod des Kollegen und Freundes mit von der Plattform. Er packt seine Sachen und die seines Freundes und geht. Zunächst mit dem Ziel, der Familie des Freundes in Ungarn dessen Sachen zu übergeben, um dann nach Marokko auf die Bohrinsel zurückzukehren. Wir folgen Waclaw von Land zu Land auf der Suche nach Erinnerungen, vielleicht auch auf der Suche nach dem Bruch, wann ihm das Leben abhanden gekommen ist. Die Erinnerungen führen in den Ruhrpott, wo der Vater unter Tage gearbeitet hatte, wo Waclaw Milena kennenlernte, der er nach Polen folgte, von wo seine Familie einst ausgewandert war in den Ruhrpott, der Arbeit wegen. Das Skelett des Romans sind die quer durch Europa reichenden Arbeitsbiografien, denen Waclaw nun gedanklich und tatsächlich nachreist. Muskeln und Gewebe des Romans bildet die Sprache, mit der Anja Kampmann, die zuerst 2016 als Lyrikerin an die Öffentlichkeit trat, diesen Ländermovie erzählt. Die Form sehr poetisch, bilderreich und darin auch sehr weiblich. Ein Gegensatz zu dem erzählten kargen Leben eines Mannes, der seine „besten Jahre dort draußen“ verbracht hat. Das Sujet hart, männlich. In Italien besucht Waclaw Alois, den ehemaligen Arbeitskollegen seines Vaters, der rechtzeitig von der „Esse“ weggegangen war, um doch noch alt zu werden. Er züchtet, wie damals im Pott Tauben. Eine Taube wird Waclaw mitnehmen über die Alpen bis in den Ruhrpott. Sie erhält einen Namen, sie wird seine Begleiterin über eine längere Zeit, vielleicht als Symbol für die verlorene Liebe – und endlich lässt er sie auf einer Halde frei. „Auch der Magnetsinn sollte im Schnabel sitzen, da wo die Sprache hauste. Das Heimfindevermögen.“ Er war von den Bohrinseln zu Milena zurückgekehrt, doch er war nicht mehr er. Und Milena hatte ihn dann per Brief gebeten: Komm nicht mehr. Kein Abschied. Keine Heimat mehr. Keine Haustür, vor der die Kontinente liegen: „There´s a new continent at your doorstep, William“, dieses Arthur Miller-Zitat stellte Anja Kampmann ihrem Roman voran. „Wie hoch die Wasser steigen“ beschreibt das, wie es sich lebt: nur noch zwischen Kontinenten – ohne Haustür. Für die meisten jungen Leute hat das Wort Heimat keine Gültigkeit mehr: Nur noch verstaubt, nur noch Kitsch. Man ist auf dem Globus Zuhause. Ohne dass die Autorin das benennt, spielt sie es durch. Darunter liegt jedoch im Unterschied zu den jungen Globalen eine Wehmut, die Haustür ist für Waclaw allenfalls noch im Ruhrpott zu verorten. Und er ist ja auch kein Junger mehr. Und wenn die Jungen alt werden, könnte es sein, dass sie zwischen den Kontinenten doch eine Haustür suchen.
„Wie hoch die Wasser steigen“ ist seit Ende Januar auf dem Markt und bereits von Kritikern als „Globalisierungsroman“ hoch gelobt. Ich schließe mich dem an, mit dem kleinen Hinweis, dass man dem überbordenden Kampmannschen Bilderrausch manchmal einen kühlenden Lektorenkopf gewünscht hätte. Etwa, wenn es heißt: „entlang der Straßen blitzten Dörfer auf und kleine Städte, Kirchtürme, die angeleuchtet wurden wie strenge Lehrer inmitten einer viel größeren Nacht.“ Angeleuchtete Lehrer?
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