Was das Leben unter die Haut tätowiert
Kürzlich hat Monika Vasik sich in einem Rezensionsessay über Enge und Gedränge im Lyrikmarkt Gedanken gemacht. Der Klage deutscher Verleger und Dichter über die Missachtung ihrer Leistungen im Feuilleton und sonstigen Medien, setzt sie die weitaus schlechtere Sichtbarkeit von Lyrikübersetzungen entgegen. Und führt dafür zum Teil selbstgemachte und vermeidbare Hürden an, die nicht nur darin liegen, dass man als interessierte Rezensentin z.B. der Sprache aus der übersetzt wurde nicht mächtig ist, sondern dass vielfach nur sehr schwer Informationen über den Dichter zu finden sind, mit denen man das Gelesene in einen Kontext einbetten könnte. Sie plädiert dafür, etwas von dem Feuer, das die selbstausbeuterische Arbeit an der Übersetzung überhaupt erst möglich gemacht hat, auch den Leserinnen zugänglich zu machen. Bei dem Band „Die Handschrift einer Nadel“ von Arvis Viguls, der in der Reihe „nummernlose Bücher“ in der Kölner Parasitenpresse erschienen ist, fehlt zwar auch ein Nachwort, in dem Astrid Nischkauer, die Übersetzerin der lettischen Gedichte, etwas über ihre Intention, über das, was sie derart fasziniert hat, verraten würde, andererseits ist es im Fall von Viguls, der bereits vielfach ausgezeichnet wurde und dessen Gedichte in mehr als 14 Sprachen übersetzt wurden, etwas einfacher, Informationen zu finden. Die Frage, die für mich dennoch bleibt, ist die, wie die Übersetzung überhaupt zustande gekommen ist, ist Astrid Nischkauer wirklich des Lettischen mächtig? Dieser Sprache die von weniger als 2 Millionen Menschen überhaupt beherrscht wird, die während der 90er Jahre akut bedroht war, als in Riga, der Hauptstadt Lettlands, nur noch 30 % der Bevölkerung lettisch gesprochen haben? Vielleicht ist das zweitrangig, andererseits könnte es u.U. diejenigen Stellen erklären, die aus dem Rahmen zu fallen scheinen, die sich mir nicht erschließen. Sind sie trotz sorgfältigen Lektorats übersehen worden, oder sind sie Schwierigkeiten bei der Übersetzung geschuldet?
Ungeachtet dieser kleinen Irritation ist Arvis Viguls eine lohnende Entdeckung. Und die Übertragung von Astrid Nischkauer entfaltet einen einheitlichen und eingängigen Ton, der zu den Leseproben, die ich von dem lettischen Dichter gefunden habe, zu passen scheint.
„Poesie entsteht über Wahrnehmung, über einen Partikel deines täglichen Lebens“, zitiert Marica Bodrozic Etel Adnan1, und Arvis Viguls löst diese Behauptung mit seinen Gedichten eindrucksvoll ein.
Die Gedichte, die sich häufig mit alltäglichen Details beschäftigen, sind von einer bemerkenswerten Nacktheit, sie stellen sich bloß, machen sich verletzlich, da ist kein romantischer Schleier, stattdessen angenehm nüchterne, glasklare, zuweilen kalte Beobachtungen. Wobei die Kälte in erster Linie dem Selbstschutz dient:
„wir waren grausam zu anderen, hart nach außen hin,
um unsere liebliche Zartheit im Inneren zu bewahren, in uns.“
Selbstschutz, der scheinbar aus gutem Grund angeraten ist, denn die meisten Gedichte erzählen von Narben. Also von Erinnerungen an erlittene Verletzungen.
Die Beschäftigung mit den Narben (die nicht immer eindeutig mit Begriffen zu belegen sind)2, setzt sich vom eigenen Körper fort auf die Fassaden der Häuser, die Umwelt, den Lebensraum. Das alles wird nicht getrennt voneinander verhandelt, vielmehr verbinden sich diese Ebenen in Viguls Gedichten miteinander zu langen Gedichten, die eine Realität nachzeichnen, die geräuschlos ist:
„[…] nur ein Bild –
es ist extrem hell,
als wäre […] die Realität zu stark“
Aber statt selbstmitleidig das Geschehene zu betrauern, entsteht unter Arvis Viguls Handschrift ein neuer Blick, eine Rückbesinnung auf sich selbst:
„Eine nach der anderen berühre ich meine Narben,
meine einzige Camouflage,
damit ich mich erinnere, wer ich bin.
Ich weiß nicht mehr, wie man das Kreuzzeichen macht -
Das ist mein letztes Ritual.“
Diese Verse bilden eine Art Vorwort, bevor die von A bis D gegliederten Kapitel beginnen. Überschriften handhabt Viguls auf eine eigentümliche Weise, so tragen auch einige der Gedichte, die übrigens jedes Mal den Auftakt eines neuen Kapitels bilden, lediglich fortlaufende Zeichen.
Schön komponiert, ist jedes Kapitel von einer kleinen Sinneinheit getragen, die die aufeinanderfolgenden Gedichte verbindet; die Erneuerung des Menschen bei Zahnarzt und Friseur, die Narben von Natur und Mensch, oder die Wäsche, die Anzeichen eines nicht erinnerbaren Geschehnisses trägt.
Es geht um Erinnern und Erkennen von dem, was unter der Oberfläche stattfindet. Um etwas Zartes, kaum Sichtbares (fein, wie die Handschrift einer Nadel) etwas, das verblasst wie Narben lang zurückliegender Verletzungen, die sich dennoch von Zeit zu Zeit bemerkbar machen.
Es gibt eine Vielzahl von Aufzählungen in Viguls Gedichten, nichts ist zu banal, der Friseurbesuch, bei dem das Haar „kurz wie ein Pulsschlag geschnitten werden soll“, ist ebenso geeignet zum Objekt eines Gedichtes zu werden, wie der Zahnarzttermin. Denn auch hier geschieht etwas unter der Oberfläche:
„Ja, ich bin komplett anders –
Jemandem ähnlich,
dem die schwere Krone vom Kopf gehoben wird
und der jetzt
ohne Zepter oder Schirm
durch die kalten verregneten Straßen laufen muss
frei, gleich und ein Niemand,
wie jeder andere auch.“
Die Befreiung, die darin liegen kann von Zepter und Krone, von jeglicher Auszeichnung, befreit , durch die Straßen zu laufen, wird nirgends erwähnt, und beleuchtet doch jedes einzelne dieser melancholischen Gedichte mit einem anziehenden Licht, dem sich die Leserin nicht entziehen kann.
Innerhalb der Gedichte vollziehen sich fortwährend Transformationen: Von der frisch gefalteten Wäsche im Wäschekorb zum Selbst als gewaschener Leiche im Sarg. Bei Viguls ist dieser Gedankengang weder wehleidig noch morbide, vielmehr stellt er eine ebenso alltägliche wie überraschende Form des Memento Mori dar.
Viguls untersucht Gesichter und Körper, er zerlegt Gebäude in Sessel und Ziegel, und menschliche Körper in Haut, Knochen und das Geflecht der Adern. Niemals gibt er sich mit der Oberfläche zufrieden, sondern versucht, immer noch ein Stück tiefer ins Innere vorzudringen. Auf der Suche nach dem wahren Gesicht:
„Nur selten erscheint ein Lächeln im Schlaf –
vertrauensvoll und frei wie das eines Kindes
und macht es unkenntlich –
das ist mein wahres Gesicht.“
Und so kratzt er am Schlaf, am Traum, am Glauben, unermüdlich auf der Suche nach dem, was allem zugrunde liegt.
„Du kannst die Vergangenheit rekonstruieren aus dem, was bleibt.
Ich werde sie aufspüren durch das, was sich verändert.“
Auf diese Weise untersucht Arvis Viguls auch, was wir „Zuhause“ nennen. Im Schmerz, während man über zerbrochene Weihnachtskugeln aufeinander zu geht, oder in einem Hotel beim „Streit über die Handschrift einer Nadel im offenen Saum eines Manuskripts“.
Zum „Zuhause“ gehören auch berührende Familiengeschichten; vom Verlust eines Vaters, der alles vergessen hat, und von der Schwierigkeit vom Bruder anerkannt zu werden.
Viguls Lyrik erscheint wie eine Abfolge einzelner Schnitte, die dennoch einen Film ergeben. Vielfältig. Eindeutig. Wie Narben, die immer als Narben zu erkennen sind, auch wenn unsicher bleibt, von welcher Verletzung sie herrühren.
„Die Fensterläden sind geschlossen, um Erinnerungen zu verbergen,
die sich im Schlaf öffnen wie eine Unterwasserexplosion,
wie eine Faust, die sehr lange und vergebens an eine Tür klopft.“
- 1. Marica Bodrozic – Poetische Vernunft im Zeitalter gusseiserner Begriffe, Matthes & Seitz, 2019
- 2. Anspielungen auf die lange wechselvolle Geschichte Lettlands sind hier durchaus vorstellbar. Landschaftlich durch Wälder und breite Strände ausgezeichnet, war das Land im Zentrum des Baltikums bis ins 18. Jahrhundert zwischen Russland, Schweden und Polen umkämpft. Die Republikgründung 1918 wurde durch den zweiten Weltkrieg und die Besatzung von Russland und Deutschland zunichte gemacht. Seine Unabhängigkeit erlange Lettland erst 1990 zurück. Zu diesem Zeitpunkt war die lettische Sprache durch eine gezielte Einwanderungspolitik der Sowjetunion akut vom Aussterben bedroht.
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