In einer anderen Welt
Dass man in den Industriegesellschaften der nördlichen Hemisphäre angenehmer und weniger riskant lebt (oder wenigstens leben kann) als, sagen wir, in Rio, setzen wir als bekannt voraus. Dass wir uns in den sich sicher wähnenden westeuropäischen Industrieländern nicht mehr recht vorstellen können, was wirkliches Elend ist (ohne dass damit das Elend unserer Welt damit bagatellisiert werden würde), lässt sich nachvollziehen. Keine Frage, dass, wer in eine Stadt wie Rio reist, sich in eine Extremzone begibt.
Klar, dass wir es uns hier in unserer schönen Welt heimisch machen und den Rest der Welt vergessen können. Schön, dass wir unsere Ausflüge in eine andere Welt machen können, in der es wirklich noch um die Existenz, um das nackte Leben geht. Und uns dann jederzeit wieder dahin zurückziehen können, wo wir eben nicht jeden Tag mit der Hitze, dem Ungeziefer, dem Durst, den Krankheiten, dem Geldmangel, den Schießereien in den Favelas und den Überfällen herumschlagen müssen, in die man jederzeit geraten kann. Ja, wir leben in einer heilen Welt, verglichen etwa mit dem Rio in Asli Erdoğans Roman „Die Stadt mit der roten Pelerine“.
Der Umstand, dass es in diesem Rio von Asli Erdoğan um die nackte Existenz geht, macht diese Stadt nicht besser oder schlechter, aber eben gefährlicher, unangenehmer. Und das sind schon zwei Gründe dafür, warum eigentlich eine Stadt wie dieses Rio nicht hingenommen werden kann, so, wie sie ist. Gibt es dazu eine Alternative? Hier ist nicht die Rede davon.
Die türkische Autorin Asli Erdoğan hat einen Roman über eine junge Frau, Özgür, geschrieben, die sich aus der Türkei nach Rio aufgemacht hat. Dass sie auf die Idee kommt, sich als Türkin in Rio mit Englischunterricht über Wasser zu halten, wird man unbesehen für eine schlechte Idee halten. Zu nahe ist doch die Stadt des Karnevals dem nordamerikanischen Kontinent, zu groß die Konkurrenz der amerikanischen Native Speaker. Was bleibt, sind also ein paar Privatstudenten, hin und wieder eine Aushilfe und die Reserven, vielleicht auch Geld von zuhause. Özgür, die sich nicht entschließen kann, wieder zurück nach Hause zurück zu kehren, sinkt also in diesem Moloch mehr und mehr ab. Sie kann ihre Miete nicht zahlen, ernährt sich von Tee und Zigaretten, gerade in jener extrem heißen Jahreszeit, in der die Temperatur über Wochen nicht zu sinken scheint.
Die junge Frau lässt sich treiben und wird getrieben, und sie tut eigentlich nichts anderes, als an einem Roman zu schreiben, der von einer junge Frau handelt, die es in das grausame Rio verschlagen hat, eine gigantische Stadt, die sie zu verschlingen droht. Der Roman „Die Stadt mit der roten Pelerine“ präsentiert also das Bild von einem Bild, das ein Bild zeigt – und überall ist mehr oder weniger dieselbe Person zu sehen, die in der Hitze dieser Stadt zu vergehen scheint.
Ja, es ist den gesamten Roman über heiß, so heiß, dass es selbst beim Lesen unangenehm stickig ist, die Atmosphäre ist bedrohlich und deprimierend zugleich. Özgür versinkt mehr und mehr in Tatenlosigkeit und in Erinnerungen, an die Männer ihrer Anfangszeit in Rio, an die brasilianischen Frauen, die ihr die Männer ausgespannt haben, an Sex, Drogen, Armut, Gewalt, und vor allem die Hitze, die allgegenwärtig ist.
Gezeigt wird eine junge Frau, die in einer Art Vorhölle gelandet ist, aus der sie sich nicht mehr zu befreien vermag. Die Telefonate mit der Mutter, die Erinnerungen an zuhause – nichts könnte befremdlicher sein. Özgür ist in dieser Stadt mittlerweile aufgegangen, als schmales, kleines, unscheinbares Wesen, das es sich nicht einmal auszurauben lohnt. Wenigstens solange nicht, bis sie als Gringa, als Ausländerin, als Touristin, entlarvt wird. Spätestens dann wird sie zu dem Opfer, das sie partout nicht sein will und das sie doch die ganze Zeit anbietet zu sein. So endet sie.
Unabhängig davon, wie es in Rio tatsächlich zugeht, präsentiert der Roman vor allem das Bild des urbanen Molochs, der nichts und niemanden verschont und dem das extreme Klima noch die Spitze aufsetzt. Das Bild der jungen Frau, die sich in der fremden Kultur verliert und in ihre untergeht. Das Bild der jungen Frau, die einen Roman über die Stadt schreibt, die sie zu verschlingen droht. Das Bild von den Elendstouristen, die eine Stippvisite auf die Schattenseite der Moderne machen, um sich anschließend wieder dahin zurückziehen zu können, wo ihnen keiner etwas zuleide tun kann. Das Ganze formiert sich zu einem Gesamtbild, das zahlreiche bekannte, wenngleich äußerst bedrohliche Züge hat.
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