Düster-poetische Anklageschriften
Von August bis Ende Dezember 2016 saß Asli Erdogan im Frauengefängnis Istanbul-Bakirköy in Haft. Es war nicht das erste Mal. Schon früher hatte sie über Haft und Folter geschrieben, über die Unfreiheit des Wortes. Als sie kurz vor dem Jahreswechsel überraschend für die Dauer des Prozesses freigelassen wurde, war die Freude groß. Aber es ist eine getrübte Freude. Sie darf das Land nicht verlassen. Die Staatsanwaltschaft fordert lebenslange Haft für Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Als Beweismittel dienen ihre Kolumnen und die Tatsache, dass sie einen Tag lang symbolisch aus Solidarität die Leitung der inzwischen verbotenen kurdischen Tageszeitung Özgür Gündem übernommen hatte – wie einige andere Kollegen auch, die ebenfalls angeklagt wurden.
Eine Chance auf einen fairen Prozess hat sie nicht. Die Vorwürfe sind hanebüchen. Aber in einem Land, in dem Zehntausende Richter und Staatsanwälte entlassen oder verhaftet und durch regimetreue Schauspieler ersetzt wurden, kann man nur hoffen, dass die Willkür einen verschont. Am 14. März beantragte Asli Erdogans Anwalt die Erlaubnis, dass seine Mandantin für Lesungen und Preisverleihungen ins Ausland reisen darf. Sämtliche Anträge wurden abgelehnt, der Prozess auf den 22. Juni vertagt. Asli Erdogan ist nicht frei. Sie ist lediglich vorübergehend nicht in Haft.
In dieser Situation erscheint auf Deutsch eine Sammlung ihrer jüngeren Essays, „Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch“, den Titel hat sie einem Gedicht von Giorgos Seferis entliehen. In dem Text erinnert sie an den Aufruf, den Anfang 2016 mehr als 1100 AkademikerInnen aus der ganzen Türkei unterzeichnet haben: Gegen den neuerlichen Krieg gegen die Kurden, den Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan im Herbst zuvor begonnen hatte. Für Frieden. Viele der Unterzeichner sind heute in Haft, fast alle haben ihren Job verloren, sämtliche Universitäten werden inzwischen von der AKP kontrolliert.
Asli Erdogans Essays sind in düster-poetischer Sprache verfasste Anklagen gegen die alltägliche Gewalt gegen Regimegegner, Frauen, Minderheiten in der Türkei. Viele Texte drehen sich um den Krieg im kurdischen Südosten, der monatelang wütete. Es geht um die 177 Zivilisten, die in den Kellern von Cizre bei lebendigem Leib verbrannt wurden. Um die Mutter, die aufgrund der Ausgangssperre ihre kleine Tochter nicht beerdigen konnte und sie tagelang in einer Kühltruhe aufbewahrte. Es gibt Passagen in diesen Essays, die kaum lesbar, kaum zu ertragen sind – und die gerade deshalb gelesen werden müssen. Es sind hochpolitische Texte, die sich nicht abfinden wollen mit dem, was tagtäglich geschieht, in der Welt, vor allem aber in der Türkei.
Wenn sie von den Gräueltaten der Armee, der Polizei und der nationalistischen Schlägertrupps erzählt, erzählt Asli Erdogan immer wieder auch von Auschwitz. Nicht, um Erdogan mit Hitler zu vergleichen. Sondern um vor Augen zu führen, wie groß und unfassbar das Leid jedes einzelnen Menschen ist, der, egal wann und wo, derartige Grausamkeiten erleben muss, der getötet wird aus Hass und aus Machtgier. Um Menschen, denen, wie im Falle des Genozids an den Armeniern, sogar die Trauer genommen wird, indem gesagt wird: Das ist nie passiert. Es geht immer wieder: Um die Sinnlosigkeit der Existenz, um die Unmöglichkeit des Lebens. Und um die Frage, wie das überhaupt gehen kann: darüber zu schreiben.
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