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Kritik

Der letzte Krümel Gerechtigkeit. Deliduman von Emrah Serbes

Hamburg

„Jeder Mensch wird von einem anderen geliebt. Das ist der letzte Krümel Gerechtigkeit auf dieser Welt.“ Das sagt Caglar Iyice, siebzehn Jahre alt, der in dem Provinzkaff Kiyidere hockt und an Liebeskummer verzweifelt. Und an dem elenden Klüngel der „Partei, wegen der unser Großvater Krebs bekam“ - aber was kann er schon tun? Sein Onkel ist Bürgermeister, und jeder Dorftrottel, der irgendwie mit ihm verwandt ist, hat jetzt einen wichtigen Posten. Auch Caglar, aber er hängt das nur dann an die große Glocke, wenn es ihm einen Vorteil bringt.

Seine geliebte Cisem hat ihn nach nur einem Kuss schmählich verlassen, aber es gibt noch einen Menschen, den Caglar über alles liebt: seine kleine Schwester Cigdem. Und Cigdem hat einen Traum: Sie will einen Talentwettbewerb gewinnen, indem sie den Moonwalk tanzt. Also setzt Caglar alles daran, ihr diesen Traum zu erfüllen. Er dreht in der Garage seiner Eltern ein Video mit ihr, dass er auf Youtube hochlädt, und es scheint sogar zu funktionieren – bis zu dem Augenblick, in dem in Istanbul der Gezi-Aufstand losbricht und sich plötzlich niemand mehr für das moonwalkende kleine Mädchen interessiert. Doch Cigdem schmiedet einen Plan: Sie will tanzen. In Istanbul. Vor einem Wasserwerfer. Und Caglar soll es filmen...

Cigdem, Caglar und dessen bester Kumpel Cengiz (den alle nur Bazille nennen) erinnern an das liebenswerte, naiv-großmäulige Personal aus Emrah Serbes' Kurzgeschichtensammlung „junge verlierer“ (Binooki, Berlin 2014). In seinem Roman „Deliduman“ (Deutsch von Selma Wels), der in der Türkei mit über 150.000 verkauften Exemplaren längst ein Bestseller ist, verarbeitet er aber auch seine eigenen Erfahrungen des Sommers 2013 in Istanbul, als die Luft nach Veränderung roch und noch niemand ahnte, wie brutal der Staat die Aufbruchstimmung niederschlagen sollte.

Emrah Serbes, Jahrgang 1981, ist der Superstar der jungen türkischen Literaturszene. Schon sein Debüt, der erste von zwei Romanen um den Polizeikommissar „Behzat C.“, begründete seinen Erfolg. Es folgte eine TV-Serie und mehrere Kinofilme, Serbes schrieb einige der Drehbücher – und stand während der Besetzung des Gezi-Parks in den ersten Reihen an den Barrikaden. Auf Twitter und in Interviews keilte er gegen Staatschef Erdogan, was ihm mehrere Anklagen einbrachte, zuletzt im Sommer 2015. Aber er lässt sich nicht den Mund verbieten. „Behzat C.: Der einzige Polizist, auf den wir stolz sind“, war einer der Slogans, die die Demonstranten damals am Taksim skandierten und auf die Hauswände sprayten. Doch wofür steht das „C.“? Als Erdogan die Demonstranten damals Capulcu (Plünderer) nannte, beanspruchten sie diese Bezeichnung sofort für sich, und jemand sprayte am Taksim: „Behzat Capulcu“. Serbes hatte keine Einwände. Der Name war gefunden.

Wer in „Deliduman“ nun einen feurigen Politroman erwartet, liegt daneben. Serbes geht es um seine Figuren, vor allem um seinen Ich-Erzähler Caglar, den man schon nach wenigen Seiten so gut zu kennen glaubt, als wäre man mit ihm aufgewachsen. Caglar ist kein junger Aktivist oder Revolutionär, er ist nichtmal links, und anfangs geht ihm Gezi gehörig auf den Keks, weil es das Publikum von seiner Schwester ablenkt. Einmal wird er von Demonstranten in seinem Heimatort ausgebuht, denn jeder weiß ja, in welcher Partei sein Onkel ist. Aber das ist ein Schlüsselmoment für Caglar. Er fragt sich zum ersten Mal, auf welcher Seite er eigentlich steht und merkt rasch, dass das keine simple Schwarzweiß-Frage ist. Als er wenig später gemeinsam mit den Capulcus im Park vor den Tränengasgranaten der Polizei flüchtet, gerät sein Weltbild ins Wanken – und eine wichtige Rolle dabei spielt eine Möwe, die kein Leser dieses Buches je wieder vergessen wird.

Emrah Serbes
Deliduman
Aus dem Türkischen von Selma Wels
binooki
2015 · 400 Seiten · 24,90 Euro
ISBN:
978-3-943562-47-7

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