„MIT WUT VERPUTZTE SEHNSUCHT“
Schmal, 160 Seiten, von Oliver Kontny aus dem Türkischen übersetzt und im binooki-Verlag erschienen: in seinem Erzählband JUNGE VERLIERER schreibt der 1981 in Yalova geborene und als Stimme des Volkes geltende Jungautor Emrah Serbes gleichermaßen ernst wie humorvoll von acht Jungen zwischen 13 und 19 Jahren.
Der Titel JUNGE VERLIERER erweckt fälschlicherweise das Bild, als ginge es hier um Versager. Doch bei Serbes geht es nicht um die, die auf der Strecke geblieben sind. Es geht um die, die noch unterwegs sind. Wenn überhaupt beschreibt der Titel das, was sie nicht sein möchten. Keine Verlierer sein, der Wunsch verleiht den Protagonisten der acht Erzählungen den Antrieb für ihr Handeln. Neben dem verhängnisvollen Hang zu Mädchen (und Frauen, vor allem zu unerreichbaren), vereint sie ihr Wunsch und ihr Bemühen wahr- und ernst genommen zu werden. Im Prozess des Erwachsenwerdens ist ihr Selbstbewusstsein fragil, der Mut verlässt sie oft im richtigen Moment und ihr Handeln erscheint ihnen zwar richtig, findet aber in der Logik der Erwachsenen nicht immer einen gebührenden Platz.
„Ich würde niemals eine Partei der Mitte wählen oder jemanden anstiften, sie zu wählen. Ich bin ein emotionaler und romantischer Mensch, seit meinem fünften Lebensjahr schreibe ich Gedichte, und ich bin nicht nur konservativ, sondern auch radikal“
Wenn der Protagonist der ersten Erzählung mit seiner Oma zur Wahl geht und sie mit den Worten „Möchtest du auf deine alten Tage erleben, wie aufregend der Kommunismus sein kann?“ zu einer Stimme für die Kommunisten anstiftet, erzählt sich eine beeindruckende Freundschaft zwischen einem Jungen und einer alten Frau.
Und so geht es bei den folgenden sieben Erzählungen auch. Meistens meinen die jungen Protagonisten es gut mit ihrer Umwelt. Sie versuchen Freundschaften und gute Beziehungen zu ihren Eltern, Freunden und den Mädchen zu knüpfen und zu erhalten. Manchmal meinen sie es zu gut, manchmal wenden sie fragwürdige Maßstäbe an und greifen zu unlauteren Methoden, aber immer kann man sie verstehen.
Wesentlich für die Empathie, die Serbes für seine Protagonisten weckt, ist die Wahl der Perspektive. Dass der Autor die Ich-Perspektive wählt und so aus ihnen heraus erzählen kann, ist für seine Erzählungen zwingend notwendig, denn so schafft es Serbes, seine Protagonisten, bei allem, was sie tun, verständlich zu machen. Sehr sicher würden sie beim Draufblick anders wahrgenommen. Die zwei Freunde, die ein Mädchen in den Heizungskeller locken, um dort ihre Brüste anzufassen, der Junge, der von seinen Eltern die Pistole verlangt, um seinen vermeintlich terroristischen Nachbarn zu erschießen, oder auch nur die Prügel, die bei Serbes sehr großzügig verteilt werden – mit seinem Erzählband schafft es der Autor, dass man beim Versuch zu urteilen ins Stocken gerät.
Man kennt diese Jungs. Bisher hat man sie mit den eigenen Augen gesehen. Man hat sie wenig wahrgenommen und oftmals nicht besonders gemocht. Nach diesen acht Erzählungen hat sich etwas verändert.
Ihre eigene Logik ist bezaubernd. Wenn beispielsweise Serkan die „easy peasy Fragen“ in der Englischarbeit alle extra falsch löst, um weiterhin seine schöne Nachhilfelehrerin zu treffen, herrscht auf Leserseite allergrößtes Verständnis - auch noch, als er sie schließlich gegen ihren Willen küsst.
Neben dem erwachenden Interesse für Mädchen, sind die Bedeutung des Familienzusammenhaltes, Freundschaft und Einsamkeit Themen, mit denen Serbes seine Geschichten verbindet. Dabei erzählt er stets mit Leichtigkeit. Wenn auch für die Jungen der Gradmesser für die Zufriedenheit mit der eigenen Familie wie selbstverständlich das Ausmaß der Schläge ist, das die Väter walten lassen, erwecken die Lebenswelten, die der Autor entstehen lässt, nicht den Anschein tiefgreifender Familientragödien. Dass es ernst wird, muss man erst in der letzten Geschichte fürchten. Es trifft einen unvorbereitet, als der Vater von Nurullah ihm im Kaffeehaus in aller Öffentlichkeit seine 14-Millimeter überreicht, damit er sich nicht mehr verprügeln lassen muss.
„Ab jetzt sollst du diese Waffe tragen“, sagte er. „Jemand macht dich dumm an? Schieß erst in die Luft und dann auf seine Ferse.“
Eine Möglichkeit zum Einsatz der Waffe bietet sich umgehend und als Leser hofft man, die junge Generation, die Serbes hier beschreibt, möge mehr Verstand besitzen als die ihrer Eltern. Die kritische Reflexion von Gesellschaftsstrukturen erfolgt bei Serbes über das Mit- und Nebeneinander zweier Generationen. Wenn die Jungen noch nicht alt genug für eine eigene Reflexion dessen sind, was sie vermittelt bekommen, stellt sich der kritische Kontrast über das, was Serbes in seinen Erzählungen nebeneinander stellt, ein. In „Über mir wohnt ein Terrorist“ etwa, versucht der 12-jährige Nurettin mit der gefährlichen Ernsthaftigkeit eines Kindes gegen den von den Erwachsenen als verdächtig eingestuften neuen Nachbarn vorzugehen. Es kostet seine Eltern und andere Erwachsene alle Mühe, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, und er versteht die Welt nicht mehr, haben diese ihm doch beigebracht, was es heißt, ein Patriot zu sein.
JUNGE VERLIERER erzählt von der Tragik, die beim Erwachsenenwerden in fast allem steckt, weil der Überblick zur Einordnung des Erlebens fehlt, aber immer mit der Hoffnung derer, die wissen, sie würden alles tun, um einmal nicht zu den Verlierern zu zählen. Emrah Serbes Erzählband ist sprachgewaltig, sensibel und beeindruckend.
Einzig die Weisheit und das politische Vokabular der teils sehr jungen Protagonisten sind nicht immer nachvollziehbar. Hier ist der Autor, der sie mit einem besonderen Blick und einer eigenen Philosophie ausstaffiert, deutlich spürbar. Trotzdem machen diese mal poetischen, mal politischen Gedanken, die Geschichten des Erzählbandes so reich und so nimmt man sie gerne hin.
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