Das Vergangene, ein Übergriff, der niemals aufhört
Erst die Mutter, dann der Vater, der Bruder, die Großmutter, schließlich der Onkel: in Athena Farrokhzads Bleiweiß werden die Effekte gesellschaftlicher Ordnungen in der Sphäre der Familie durchgespielt. Dass der bereits 2013 unter dem schwedischen Titel Vitsvit erschienene und mittlerweile in mehr als fünfzehn Sprachen übersetzte Debütband Farrokhzads, die 1983 im Iran geboren wurde und in Schweden aufgewachsen ist, nun endlich auch auf Deutsch erscheint, ist der Hamburger Übersetzerin Clara Sondermann und kookbooks (erst kürzlich mit einem der drei Spitzenpreise beim Deutschen Verlagspreis 2019 ausgezeichnet) zu verdanken.
Und der Dank sollte groß sein: zunächst ist da der zärtlich-grausame, fast fatalistische Ton, den Clara Sondermann gefunden hat und der in der deutschen Übersetzung wunderbar funktioniert. Ein Ton, der einerseits den Nahraum der Familie mit sanften Klirrbildern aufspannt, andererseits mit Nuancen verbitterter Härte und sentenzenhafter Geschliffenheit Themen aus Geschichte und Politik, Erinnern und Vergessen, Anklagen und Verzeihen, Weggehen und Ankommen, das Widerhallen von Exil und Heimweh nur umso wuchtiger in diesen Familienraum einbetten kann.
„Meine Mutter reichte ihrer Mutter das Glas und sagte: Jetzt sind wir quitt / Hier hast du die Milch zurück // Meine Großmutter sagte: Deine Mutter kommt von der aufgehenden Sonne“ (22)
Bleiweiß ist ein Pigment, das seit der Antike zum Bleichen genutzt wurde, als Schminke und Ölfarbe, das aber auch giftig wirkt. Es ist neben der Milch eines der Leitmotive des Bandes: eine Metapher für die Toxizität vom Anpassenmüssen in der Fremde, für die Verwässerung von Erfahrung, die das Ankommen in einer fremden Sprache bedeuten kann, für die tragischen Überanstrengungen des Dazugehörenwollens. Auch das Bleierne als Last des Erbes schwingt im Titel mit: die Belastungen mit Erfahrungen und Erwartungen, die die Nachkommenschaft von den Eltern einsaugt.
„Meine Mutter ließ Bleichmittel durch ihre Syntax laufen / Auf der anderen Seite des Satzzeichens wurden ihre Buchstaben weißer / als ein Winter in Norrland“ (5)
Farrokhzad hat für das Bedichten des inter- bzw. transkulturellen Erfahrungsraums eine Form gefunden, in der lyrische, dramatische, politische und konzeptkünstlerische Verfahren so miteinander verschränkt werden, dass ein Spiegelkabinett ungeheurer Kraft entsteht. Der Kniff des Ansatzes besteht in einer besonderen Art, Fremdaussagen zu nutzen: Eine Sprechende listet Aussagen ihrer Familienmitglieder auf, die mit den Formeln „Meine Mutter sagte:“, „Mein Bruder sagte:“ etc. eingeleitet sind. Über das Possessivpronomen ist die Sprechende deutlich präsent, tritt aber als lyrisches Ich nicht direkt in den Text, sondern wird allein indirekt an manchen Stellen mit „du“ angesprochen. Durch diese Sprechsituation steht die Lesende mitten im privaten Raum der Familienbeziehungen, mitten in den Anreden, was eine unmittelbare Intensität verschafft.
„Meine Mutter sagte: Wären die Umstände in deinen Augen mildernd / würdest du mich glimpflicher davonkommen lassen“ (8)Der Text funktioniert also über drei Ebenen: die Sprechende listet die Aussagen ihrer Familienmitglieder auf, diese Aussagen interagieren miteinander, und im Inhalt der Aussagen zeichnen sich die Familienmitglieder selbst und gegeneinander, auch über die Sprechende selbst sowie ihr Textschaffen reden sie. Die drei Ebenen sind so zirkulär verschränkt und spiegeln sich dergestalt ineinander, dass immer etwas im Bild verruckelt.
„Meine Mutter sagte: Wie in Mumienwickel bindest du die Erzählung / Wie einen Fluss der alle Schmutzströme der Geschichte trägt / Meine Mutter sagte: Die Zeit wird deine Zunge einholen // Mein Vater sagte: Alles was du schreibst wird man gegen dich verwenden / Meine Mutter sagte: Zu gegebener Zeit wird man alles gegen dich verwenden“ (53)
An den Grenzen der drei Aussageebenen erscheint die Differenz, die letztlich auch eines der Hauptthemen des Bandes ist: Spürbar wird, dass es einerseits vergeblich, vielleicht unmöglich ist, wahr und aufrichtig über Gewalt und Unrecht zu sprechen, andererseits aber, dass dieses Be-Sprechen als Überlebensform notwendig sein kann.
„Meine Mutter sagte: Unterschätze niemals welche Mühen die Menschen auf sich nehmen / um Wahrheiten zu formulieren vor denen sie bestehen können“ (8)
„Mein Vater sagte: Wie viel Widerstand kann Menschenfett tragen / bevor sich die Peitschenstriemen einschreiben / Mein Vater sagte: Wenn du das Alphabet vergisst / findest du es auf meinem Rücken“ (32)
„Mein Onkel sagte: Du wirst alles vergessen / außer der Erinnerung daran dass du dich für immer erinnerst“ (36)
„Meine Mutter sagte: Deine Differenz ist unbeweglich und stumm / Nein, deine Differenz ist ein beschworenes Untier das seinen Tribut fordert / Deine Differenz ist dazu verdammt seine Frage zu wiederholen“ (60)
Der Text hinterfragt in seiner Form bereits seine eigene Genese, denProzess seiner Verschriftlichung. Wie kann die Tochter nur so etwas tun: über die Familie schreiben, in der Mehrheitssprache des Ankunftslands! Dadurch stellt er auch Fragen zur Legitimität von Autorschaft, zu Verrat, Übergriff und Enteignung, die mit der Übernahme von Stoff aus der Vorstellung faktualer Wirklichkeit in den Status der Fiktionalität verbunden sind. Er fragt, was es bedeutet, sich ein Bild von seinen nahen Menschen zu machen, welche verletzende Gewalt die narrative Festsetzung von Leben birgt, erst recht nach einem Sprachwechsel.
„Mein Vater sagte: Wessen Vater beschreibst du hier // Meine Mutter sagte: Wessen Mutter beschreibst du hier // Mein Bruder sagte: Auf wessen Bruder spielst du an // Meine Großmutter sagte: Schneide Gemüse oder es gibt kein Essen“ (19)
„Meine Mutter sagte: Alle Familien haben ihre Geschichten / doch um sie hervorzuholen braucht es jemanden / mit einem besonderen Drang zur Entstellung“ (28)
„Meine Mutter sagte: Nur die Zeile die mich zum Weinen bringt / scheint dir würdig geschrieben zu werden“ (54)
„Mein Vater sagte: Wer wird sprachlos in einem Gedicht über Sprache / Meine Großmutter sagte: Wer wird aufgedeckt in einem Gedicht über Begehren / Meine Mutter sagte: Wer wird verraten in einem Gedicht über Verrat“ (55)
„Mein Vater sagte: Zeig mir den der seine Sprache aufgegeben hat / und ich zeige dir den der von keiner Sprache aufgehoben ist // Mein Bruder sagte: Wir sind nichts als die Summe der Verletzungen die Sprache uns zufügt / Die Summe der Verletzungen die wir zufügen“ (56)
Beginnend bei der Mutter treten immer mehr enge Verwandte mit ihren Aussagen hinzu, eine Familienaufstellung entsteht als sukzessiv anschwellender Chor. Aus dem Dunkel kommen weitere Perspektiven und Erfahrungswerte ins Licht, so wie es vielleicht auch dem Ablauf der Sozialisation eines Kindes entspricht: der Beziehungsraum weitet sich immer mehr. Nicht umsonst ist das Motiv der Muttersprache, die mit der Muttermilch aufgesogen wird, im Band sehr präsent und öffnet sich sogar hin zur Zitation Paul Celans.
„Sich vorzustellen dass ich an diesen Brüsten gesogen habe / Sich vorzustellen dass sie mir ihre Barbarei in den Mund gestopft hat“ (5)
„Meine Mutter sagte: Wenn wir uns wiedertreffen werden wir so tun / als hätten wir uns nicht gekannt als du hungrig warst und ich dir Milch gab“ (24)
„Mein Bruder sagte: Schwarze Milch der Frühe, wir trinken dich nachts“ (25)
Im Visuellen des Bandes tritt jedoch nichts aus dem Dunklen ins Licht, sondern aus dem Weiß des Schweigens in die Schrift: auf dem White Cube der Seite finden sich schwarze Blöcke wie Schwärzungen von etwas ohnehin Ausgelassenem, spärlich auf den Seiten verteilte Blöcke, als seien die ohnehin unsichtbaren Aussagen noch zusätzlich ausgestrichen worden. Das Weiß der Seite wirkt dabei auch als Raum der Nicht-Schrift. Auf diesen schwarzen Blöcken wiederum treten die Verse in weißer Schrift hervor, wie Menetekel, die aus dem Verschwundenen zur Sichtbarkeit durchbrechen. Freuds Notizen über die Funktionsweise von Erinnerung kamen mir in den Sinn: der Wunderblock des Bewusstseins, auf den Erinnerungen präsent geschrieben, dann vergessend wieder getilgt werden, auf dem aber Durchdrücke mit Erinnerungsspuren bleiben, die als Stimmungen wirken.
Displacement, Altern, Rassismus, Folter, Misstrauen, Verzeihen und viele andere Phänomene werden aus verschiedenen subjektiv-affektiv geprägten Perspektiven verhandelt. Durch seinen formalen Bau gelingt es dem Text, Meinungen, Erfahrungen und Urteile zu integrieren, ohne seine Komplexität aufgeben zu müssen. Sie ragen aus dem Weiß des unaussprechbaren und deshalb ausgesparten Erlebnisraumes in den Text hinein, verständlich und nachvollziehbar, werden aber nicht auserzählt. Das macht den Text zu einem wundervollen, offenen Testfeld fürs Ein- und Mitfühlen. Sprachlich kann der Text sogar Wendungen tragen, die in anderen Kontexten vielleicht als allzu poetelnd oder lyrisierend wirken könnten, Verse, die aphoristisch, redewendlerisch und sprichwörterhaft daherkommen. Es findet sich eine Brüchigkeit ein, eine Inkohärenz, die alle persönlichen Aussagen grundiert; eine Stimmung, die eine Ahnung davon spürbar macht, was es vielleicht heißen mag, wenn die Eltern eine andere Sprache sprechen als der Sozialraum um die Familie herum, oder wie ein zurückgelassener Ort noch auf den jetzigen Aufenthaltsort wirkt mit Fragen der Verantwortlichkeit. Was das bedeuten muss für eine oder einen.
„Mein Vater sagte: Dein Bruder rasierte sich noch bevor der Bart anfing zu wachsen / Dein Bruder sah ein Terroristengesicht im Spiegel / und wünschte sich ein Glätteisen zu Weihnachten // Mein Bruder sagte: Ich möchte eines Tages in einem Land sterben / in dem die Menschen meinen Namen aussprechen können“ (17)
„Mein Bruder sagte: „Ich will wissen, wen man meinetwegen erniedrigt hat“ (39)
„Mein Onkel sagte: Wenn du beim Überqueren einer Grenze nicht zittern musst / hast du keine Grenze überquert“ (50)
„Meine Großmutter sagte: Zugehörigkeit ist wie ein Spiegel / Wenn er zerbricht kannst du ihn kitten / Meine Mutter sagte: Aber im Spiegelbild fehlt eine Scherbe“ (51)
„Mein Vater sagte: Niemand der zu dir gehört liegt in dieser Erde begraben / also gehört diese Erde nicht zu dir/ Meine Mutter sagte: Erst wenn du mich in dieser Erde begräbst / gehört diese Erde zu dir“ (52)
Die Sprechende wird in den Aussagen ihrer Verwandten in verschiedenen Rollen angesprochen: als Tochter, als Dichterin, als junge Frau. An sie herangetragen werden Vorwürfe, Anschuldigungen, Erwartungen und Enttäuschungen sowie die Bürde, die die nachfolgende Generation aus dem Trauma von Krieg und Exil erhält.
„Meine Mutter sagte: Im Schlaf deines Vaters werdet ihr zusammen hingerichtet / Im Traum deines Vaters bildet ihr eine Genealogie der Revolutionäre“ (11)
„Meine Mutter sagte: Ich habe deinen Vater ein Leben lang um sein Trauma beneidet / bis ich einsah dass mein eigenes noch viel bemerkenswerter war“ (12)
Der Vater denkt marxistisch und gibt seine Sicht auf die Weltlage zur Genüge kund, die Mutter stellt ihr Aufopfern für die Zukunft ihrer Kinder immer wieder heraus, die Großmutter sehnt sich nach dem Ort der Minze, von dem sie stammt. In dieser Konstellation aus Begehren wird auch die Macht und der Einfluss deutlich, den die Familie auf die jüngste Generation hat. Die Abhängigkeit von der Herkunft wird intuitiv erfahrbar, auch die Wut auf die unlösliche Verbundenheit, welche manchmal in eine Sehnsucht zum Versöhnen kippt, diese Wut, die manchmal auch nur eine Form der Liebe ist, eine derjenigen komplexen Formen tiefer Beziehung, die Familie bereithält.
Die Sprechsituation des Texts erinnert mich dabei auch ein bisschen an einen Monolog von Wolfram Lotz, in dem sich die Mutter der Figur Wolfram Lotz darüber freut, dass es ihr Sohn endlich auf diese Bühne geschafft hat und nun dort sprechen darf. Man sieht die Figur auf der Bühne alles für den Auftritt vorbereiten, während im Off der Monolog der Mutter überpräsent ist und bis zum Schluss der einzige Redebeitrag bleibt. Der Sohn selbst ist die ganze Zeit über stumm.. Auch Farrokhzads Text wirkt manchmal dramatisch, besonders dann, wenn sich die einzelnen Aussagen der Familienmitglieder thematisch gruppierend zusammenfinden und sich gegenseitig widersprechen.
„Mein Vater sagte: Wer reist ist überflüssig dort wo sie herkam / Meine Mutter sagte: Wer reist wähnt sich unentbehrlich dort wo sie hinkommt / Mein Vater sagte: Wer reist ist überflüssig dort wo sie hinkommt / Meine Mutter sagte: Wer reist wähnt sich unentbehrlich dort wo sie herkam / Mein Onkel sagte: Wer reist weiß nichts von Orten“ (48)
So ergibt sich eine äußerst bewegliche Form, die das Rekonstruieren einer Wahrheit aus dem Vergangenen stets als behelfsmäßig fragil und notwendig zugleich beschreibt. Dass Erinnern bedeutet, zu entstellen und zu verraten, vielleicht bedeuten muss, weil es nur in Sprache sich vollzieht: gerade auch für den deutschsprachigen Raum stellt der Text diese ungemein wichtige Beobachtung heraus.
„Mein Bruder sagte: Um das Verbrechen zu verurteilen bleibt dir nur die Sprache der Verbrecher / und die Sprache der Verbrecher wurde erfunden um das Verbrechen zu rechtfertigen“ (60)
Athena Farrokhzads Bleiweiß ist, zusammengelesen mit ihrem offenen Brief an Europa, dessen englische Übersetzung ebenfalls sehr zur Lektüre empfohlen sei, ein wichtiges Beispiel für die Texte von jungen Dichter*innen, welche vielleicht nicht unbedingt per se politische Lyrik machen wollen, jedoch aber das Dichten politisch denken: mit Vorbildern aus der queeren, postkolonialen und intersektionalen Tradition von Muriel Rukeyser über Audre Lorde, Maya Angelou bis Amiri Baraka. Farrokzhad hat Adrienne Rich, die sie auch übersetzt, in einem Interview zitiert: „Art means nothing if it simply decorates the dinner table of the power which holds it hostage.“ Auffällig dabei ist, dass diese Dichter*innen die größten Probleme der politischen Lyrik der sechziger und siebziger Jahre (Betroffenheitsgestus, Simplifizierung, Propositionalität der Meinungen und Urteile, Anklagehaltung) in klugen und vielschichtigen Formgebungen aufzulösen oder zumindest zu bearbeiten verstehen, indem sie auf Verfahren aus anderen Gattungen (Essayistik, Prosa, Dramatik, Biographik, Konzeptkunst) zurückgreifen und besonders auf die Durchdringung privater und intimer Sphären durch die großen Diskurse fokussieren. Diese Ansätze schaffen fast eine eigene Gattung, die man „Politik des Intimen mit poetischen Mitteln“ nennen könnte; und nicht wenige Autor*innen verstehen ihr Schaffen auch als politisches Handeln. Poesie als gesellschaftlicher Austragungsort von Affektbewältigung, Emotionsverfeinerung und Gefühlsausdruck lässt sich anhand dieser Ansätze als eine politische Praxis verstehen, die Menschen zur Gestaltung aktivieren will: in Fragen von Dekolonisation, Kapitalismus, Umwelt und Gender-, Ethnien- und Klassengerechtigkeit. Wer wissen möchte, wie so etwas völlig gelingt, sollte auf diesen Band zurückgreifen, der vor allem eines ins Bewusstsein holt:
„Das Vergangene ist ein Übergriff der niemals aufhört.“ (26)
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