Anzeige
Komm! Ins Offene haus für poesie
x
Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Wir, mit Ballonköpfen

Hamburg

In der Lyrikheftreihe der Parasitenpresse zu Köln ist in rascher Folge mittlerweile der 39. Band erschienen: Gedichte des Lyrikers und Romanciers Bernd Lüttgerding unter dem Titel Stäubungen. Lüttgerdings Debüt in der Parasitenpresse ist außerhalb von Zeitschriften und blog sein erster Band zum Blättern und es wird schnell klar, dass sich die Gedichte der Auswahl aufeinander beziehen und eine nicht nur lose Folge von Stimmungen mit Stichworten bilden. Ein durchgehendes lyrisches Du bewegt sich durch Welten, die sich wandeln innerhalb der Folge, der Gedichte und auch unvermittelt innerhalb der Verse. Wendeverse oder auch Ventil zweier (oder mehr) Welten. Vorhang auf und Vorhang zu, Reisen, Plattformen, Fahrkarten, sonntags und dienstags, eine Arbeitswelt, eine Felderwelt, das "verkommene Dorf". Irgendetwas ist stets quer, läuft davon, unterläuft und trübt und stört. "Nervosität", "Hühner", "ehemalige Gartenfeste", "Empfindlichkeit" und "Staub" und "Stäubungen" sind die Stichworte oder auch kurzen Einheiten, die als Innenschauen Halt geben in der Unstetigkeit, wie "dankbar für die Reste von Zwang". In der Biografie lesen wir, dass Lüttgerding, der seit vielen Jahren in Belgien wohnhaft ist, nach "ausschweifenden geisteswissenschaftlichen Studien" in verschiedenen (Berufs-) Welten gearbeitet hat, unter anderem als Gärtner, Museumsangestellter und im Buchhandel. So oder so ähnlich könnte auch eine Lesart jener Gedichtwelten in Stäubungen und ihres Durchziehens lauten. Dabei ist Lüttgerdings Sprache auffällig außermodisch an einigen Stellen, verwendet Vokabular, Gerätschaften und Redewendungen, die auch aus einem "stäublichen" Bildband stammen könnten oder einem Tintin-strip von Hergé:

"              Hinter dem Traktor die Egge ver-
wirbelt eine Staubgalaxie, der Wald
ist wässrige Pinselbewegung, in Gräue betäubt.
Als noch der Doppeldecker die Äcker
besprühte, gab er mir gelbe Punkte
auf Armen und Gesicht [...]"

Das lyrische Du fährt und schwebt und hantiert wie auf Stationen durch die Seiten, ständig sich selbst befragend, "bin ich beschädigt?", "Dir schwindelt", "[Zeit] sie versengt dir die Wimpern", "du getarnt". Am stärksten sind die Gedichte, die insgesamt nicht ganz so viel wollen, nicht so viele aufwendig gearbeitete Details aufweisen, wenn sie wie in "Nervös" knapp und ohne Umstände vorgehen.

"NERVÖS"

Blinzelnd, tastend im Staub
zersplitterter Ordnung, man
sieht nicht richtig, Flügel
schlagen, aus Scherben wächst
ein Block, vielleicht verklebt.

Füße, tönern, kaputt;
Figuren sind umgefallen,
weil die Finger zittern,
weil ein flatterndes Huhn – das
Gestöber verdunkelt ein Block.

Flügel, verfangen, man kann
die Achselhöhle sehen,
es windet den Hals immer weg,
beim klebrigen Beil, woran
eine Daune weht, gibt man nach,

nur dankbar für Reste von Zwang
zu äußerer Form"

Die Flügel als Fortbewegungsmittel oder transparent genutzte Schwellen gehen mit in das nächste Gedicht "Sonntag": "Die Winterjacke riecht nach Schrank,/ die Luft verbrannt, die steinfarbne Luft. Eine Tür/ schlägt mit den Flügeln, Krähen rufen./ Vorhang: es bläht sich ein Rachensegel; –" In "Hendiadyoin" sind es die Worte selbst, die als gedankliche Fortbewegungsmittel genutzt werden:

"Denkt einer, denkt, wenn er liest
"Herz und Hirn" an eine Dose Katzenfutter.

Denkt auch, der, der denkt, da man sagt
"Damen und Herren" immer an Toilettentüren."

In den späteren Gedichten "Verkommendes Dorf" und "Dienstagsidylle" drängen sich die Beobachtungen und auch die Beobachtungen am Wort stärker in der Vordergrund, die Strophengliederung wandelt sich zu freien, durchgängigen, zäsurlosen Versen. Lüttgerding lässt Wortzwangsläufigkeiten zu wie "ein Tunnel, der, weil man dem Urinstinkt folgt, nach Urin stinkt" oder "ein Piepton, maschinengewährt mir" oder "Glyphosat, hieroglyphensatt", so als ob das lyrische Du (Ich) beim Dichten selbst von seinen eigenen Themen abgelenkt wird. Ganz dem eingangs erwähnten Motto "dankbar für Reste von Zwänge" versucht sich Stäubungen mit seiner eigenen Hypersensibilität in den Griff zu bekommen – scheitern ist hier relativ, die Welt ist zu anregend, zu nervreibend und lockend. Im Sinne eines konsequenten Gedichtbands ist diese Lesart allerdings nicht unbedingt zwangsläufig, vielleicht auch eher ein Zufallsprodukt. Doch definitiv brechen auf den wenigen Seiten die eher einem konventionellen Duktus/ Stil verhafteten Gedichte zu einer enormen Menge an fast gegenläufigen Möglichkeiten auf. Sie lassen in Bernd Lüttgerding einen Entdecker erkennen, der sein Material möglicherweise noch nicht zu Hundertprozent im Griff hat, dem aber alles offen liegt. Je nachdem, wohin er mit seinen nächsten Veröffentlichungen aufbrechen wird, eher die klaren Weltenwirbler einer grundnervösen Wahrnehmung, oder lieber die wort-assoziativen Sinnspiele in räumlichen Wimmelbildern oder womöglich noch etwas ganz anderes zwischen "Piepen, Spondeen und Arekasadara". Alles ist möglich unter diesen Vorzeichen:

"Freunde, die Vergangenheit ist tot, doch/ wie ein Aal, sie zappelt noch".

Bernd Lüttgerding
Stäubungen
parasitenpresse
2017 · 14 Seiten · 6,00 Euro

Fixpoetry 2017
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge