Aus dem Nest geschüttelt.
Der deutsche Schriftsteller Wilhelm Hauff (1802-1827) veröffentlichte von 1825 bis zu seinem frühen Tod 1827 jährlich einen Almanach seiner Märchen, die er durch eine Rahmenhandlung geschickt miteinander verband. 1826 hieß diese Sammlung „Der Scheik von Alessandria und seine Sklaven“, auf die sich Brigitte Kronauer mit der Wahl ihres Titels bezieht und die das Motiv des verlorenen Sohns in den Mittelpunkt rückt.
Hauff erzählt die Geschichte des gelehrten Scheiks Ali Banu, der seinen 10-jährigen Sohn Kairam am 12. Tag des Ramadan durch eine Entführung verliert und deshalb in tiefe Trauer fällt. An jedem Jahrestag der Verschleppung des Kindes veranstaltet er einen Wettstreit unter seinen Sklaven, die ihm Märchen erzählen sollen. Jener Sklave, der ihm die berührendste Geschichte erzählt, dem schenkt er die Freiheit. Jahre später kauft Ali Banu einen Sklaven, dessen Märchen ihn zu Tränen rührt. Mit Hilfe eines weisen Derwischs erkennt er in diesem schließlich seinen Sohn Kairam wieder.
Motivisch erinnert dieser Almanach an die berühmtere Geschichte der Scheherazade in 1001 Nacht. Anders als in seiner Sammlung von 1825, in die Hauff ausschließlich eigene Märchen aufnahm, zu deren bekanntesten „Die Geschichte von Kalif Storch“ und „Die Geschichte von dem kleinen Muck“ gehören, findet sich in „Der Scheik von Alessandria“ mit „Der Zwerg Nase“ nur ein einziges Hauff`sches Märchen, dafür nahm er Geschichten anderer Herkunft auf, etwa jenes von „Schneeweißchen und Rosenrot“ der Gebrüder Grimm. In die Rahmenhandlung dieses zweiten Almanachs eingebettet sind u.a. Gespräche über Märchen und Erzählungen, die von Kronauer aufgegriffen und in ihr Romangeflecht eingewoben werden.
„Ich habe nie darüber nachgedacht, ... worin der Reiz solcher Geschichten liegt ... Schon als Kind konnte man mich, ... durch eine Geschichte zum Schweigen bringen.“ (aus: Hauff – Der Scheik von Alessandria)
In der Tat ist das Schweigen eine Konstante in diesem Buch, eine Schweigen des Nicht-mehr-reden-Könnens, ein Schweigen auch, das nicht im Sinne von entweder-oder den Gegenpol zur Geschwätzigkeit bildet, sondern das gerade diese Geschwätzigkeit, ein Plaudern und Herumalbern braucht, um sich über die blanke Wirklichkeit retten zu können, die einem die wahre Rede verschlägt.
Drei Hauptmotive durchziehen Brigitte Kronauers Roman: Jenes des Verlusts. Jenes der Trauer. Und jenes des hier die ProtagonistInnen selten befreienden, doch existentiell notwendigen Erzählens, Hörens und Lesens von Märchen, Geschichten und Legenden. Und es ist nicht nur die Hauptperson dieses Romans, Anita Jannemann, die der Magie des Erzählens erliegt. Allein das tiefe Glück eines Wiederfindens, wie es Ali Banu in Hauffs „Der Scheik von Alessandria“ widerfährt, bleibt den Figuren in Kronauers Roman verwehrt, weil ihre Wirklichkeiten, auch wenn sie sie erzählend noch so sehr verwandeln mögen, nie zum Märchen werden:
„... das Märchen; [bleibt] fabelhaft, ungewöhnlich, überraschend; weil es dem gewöhnlichen Leben fremd ist, ... (Hauff: Der Scheik von Alessandria).
lesen wir in Hauffs Almanach. Und weiter:
... am Ende ist es dennoch eine Grundursache, die beiden ihren eigentümlichen Reiz gibt, nämlich das, dass wir etwas Auffallendes, Außergewöhnliches miterleben. Bei dem Märchen liegt dieses Außergewöhnliche in jener Einmischung eines fabelhaften Zaubers in das gewöhnliche Menschenleben, bei den Geschichten geschieht etwas zwar nach natürlichen Gesetzen, aber auf überraschende, ungewöhnliche Weise. (Hauff: Der Scheik von Alessandria).
Am 15.4.1981 trifft sich die Anitas Familie in Aachen, um den 80. Geburtstag des Großvaters zu feiern. Alle warten auf die letzten verspäteten Gäste, während die neunjährige Anita sich in Hauffs Märchenalmanach vertieft. Da platzt die Meldung vom Tod ihres zwei Jahre älteren Vetters herein. Das verhätschelte Einzelkind Wolfgang ist beim Klettern vom Baum gestürzt und hat sich dabei ein Messer durchs Herz gestoßen. Allein Anita weiß, was er mit dem Messer machen wollte, das sie ihm gegeben hatte, doch sie schweigt. Nach einer Zeit der Trauer muss sie nun Wolfgangs Eltern, Tante Emmi und ihren Mann, jeden Sonntag als Ersatzkind auf deren Ausflügen ins Kaffeehaus begleiten, was ihr zur Qual wird. Sie hat Angst, die Sache mit dem Messer und somit ihre Schuld zu verraten und obendrein unbedacht ein striktes Schweigegebot zu brechen. Denn das Wort Wolfgang wurde in Gegenwart von Tante Emmi zum verbotenen Wort und auch ähnlich klingende Worte wie „Goran“, „Hofgang“ oder „Walfang“ mussten vermieden werden, weil sie die Trauer um den verlorenen Sohn erneut wachriefen.
Jahre später ist es wieder ein Sturz sein, der Anitas Leben verändert. Mit 42 Jahren verliebt sie sich in den Wiener Mario, der an der TH Aachen arbeitet und sich in der Freizeit seinem Hobby, dem Bergsteigen, widmet. Anita kündigt ihren Job an der ETH Zürich und zieht zurück in ihre Heimatstadt, wo sie eine Teilzeitstelle als Verkäuferin in einem Antiquitätenladen annimmt, der auch Lakritzstangen und Scherzartikel anbietet. Noch ehe sich die beiden näher kennen lernen können, kehrt Mario von einer Reise nicht mehr zurück. Er ist beim Klettern am höchsten Berg des Kaukasus abgestürzt. Anita fährt weder zu den Trauerfeiern nach Wien, noch nimmt sie Kontakt zu seiner Familie auf. Stattdessen besucht sie nun regelmäßig ihre verwitwete Tante Emmi, auch deshalb, weil sie kaum andere Menschen in Aachen kennt. Bei ihr ist sie willkommen, wie ein verlorenes Kind, das heimkehrt, ohne Emmi den toten Sohn Wolfgang ersetzen zu können, dessen Name mehr als dreißig Jahre nach seinem Unfall immer noch nicht genannt werden darf. Was Anita und Emmi verbindet ist ihre verzweifelte Lust am Erzählen und der Verwandlung ihrer Wirklichkeiten in Märchen, ohne dabei Illusionen zu erliegen:
„Alle Geschichten sind in Wahrheit doch Lügen, alle!“ sagt Emmi in die Stille hinein, „nun mach du nur schon weiter mit irgendwas, ob es stimmt oder nicht!“
Auch die anderen Figuren in Kronauers Roman erleiden Verluste, auch sie versuchen, mit ihrer Trauer umgehen zu lernen, sich neu auszurichten:
Da ist der alternde Architekt Brammertz, ein Frauenheld, der nach einem ausschweifenden Leben nichts als hohe Schulden hat und von seiner Lebensgefährtin verlassen wird. Sein Schlösschen wird versteigert und abgerissen, er kann nur tatenlos zusehen, wie aus der Baulücke ein neues Gebäude wächst, das nichts mehr mit ihm zu tun hat. Emmi lässt ihm über Anita Geld zustecken, damit er nicht ganz verkommt, eine frühere Liebesgeschichte zwischen Emmi und dem Architekten wird angedeutet, die nun neuerlich aufzuflammen scheint und die greise Tante zu frischem Leben erweckt.
Da ist ein Neffe des Architekten, „der falsche Brammertz“ mit dem Vornamen Konrad, der um seine verstorbene Frau trauert. Er hat ein Gärtchen anlegen lassen, in das er sich zurückzieht, um Zwiesprache mit ihr zu halten. Anita entdeckt dieses Gärtchen als Ruhepol und lernt Konrad kennen, vielleicht bahnt sich mit einem denkbar unromantischen Beginn eine Beziehung zwischen den beiden an. Er ist Spezialist für Heimatmuseen und bittet Anita, ihm zu helfen, in einem kleinen Dorf in den bayrischen Alpen ein solches Museum einzurichten. Er möchte mit der Wahl der ausgestellten Dinge, die „aus dem nivellierenden Ozean der Zeit gerettet“ würden, selbst einmal die Historie manipulieren und eine Geschichte erzählen, denn:
Natürlich sind in Heimatmuseen ... Gebrauchsgegenstände etwas anderes als das, was sie für die Leute damals waren ... Wir stellen uns etwas her aus den Überresten der Vergangenheit ... Es geht – um die Vergegenwärtigung von uns selbst samt Vergangenheit ...
Und da ist der Besitzer des Antiquitätenladens, Herr Marzahn, auch er ein Versehrter, der sich desillusioniert in den Sarkasmus rettete. Er ist ein älterer Mann von wenig einnehmendem Wesen, ein „erklärter Freund, ja Bewunderer des boshaften Nachrede“, der „mit Blicken amputieren und mit Worten hinrichten“ kann. Eines Nachts wird ihm das Gesicht zerschlagen werden und er wird sich zurückziehen, weil er tätlichen Angriffen nichts entgegenzusetzen weiß. Marzahn ist es auch, der Anita andeutet, erst sie habe Mario durch ihre phantastischen Erwartungen aufgestachelt und zum kaukasischen Berg getrieben, dem er nicht gewachsen war. Anita erkennt die Parallelen zu Wolfgangs Tod und muss sich erneut mit dem Thema Schuld auseinandersetzen.
Trotz all der persönlichen Katastrophen, die den Roman Brigitte Kronauers durchziehen, trotz der Trauer um zu früh verstorbene Tote und des Haderns mit den Misslichkeiten des Lebens ist dieser Roman kein tieftrauriges Werk, das uns nach der Lektüre in Melancholie und Niedergeschlagenheit zurücklässt. Die Büchnerpreisträgerin von 2005 weiß leichthin zu erzählen und die thematische Schwere durch Komik zu brechen, sie mit sprachlich fein gearbeitetem Witz zu konterkarieren. Dass und warum dies derart überzeugend gelingt, lässt sich im schon bald 200 Jahre alten Werk von Hauff nachlesen:
„Ist nicht das Ganze eine ununterbrochene Reihe komischer Szenen, scheint nicht der Gang der Geschichte, so ungewöhnlich er ist, sich ganz natürlich zu fügen? Und warum? Weil die einzelnen Figuren richtig gezeichnet sind und aus ihrem ganzen Wesen alles so kommen muss, wie es wirklich geschieht.“ (Hauff: Der Scheik von Alessandria)
Offen bleibt, wer der Scheik von Aachen ist, denn Teile Ali Banus finden sich in fast allen Personen des Romans. Am ehesten ist es ein weiblicher Scheik, Tante Emmi, die Anita immer wieder eindringlich auffordert, Geschichten zu erzählen, und als deren „folgsame Sklavin“ sich Anita mitunter sieht, in einem Buch, das ein Hohelied auf das Erzählen anstimmt, von der Subjektivität des Erinnerns erzählt und seiner freien Verlügbarkeit, die von bestimmten Wahrheiten ablenkt, sie umschweigt und gekonnt ausspart. Ein wundervolles Buch!
Anmerkung: Die Hauff-Zitate sind der Webseite http://gutenberg.spiegel.de/buch/-5744/1 entnommen.
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