Verknoteter Atem
Einen „Gefangenen seiner Texte“ nannte sich der jurassische Dichter Charles Racine. Sein Werk verstand er als nahezu gänzlich posthum. Er schreibt: „Ich bin umgeben von Abwesenheit“. Ganz sicher abwesend war zu Lebzeiten eine breitere Rezeption seiner Werke, die er zu publizieren selbst erfolgreich verhinderte. Lediglich in den 70er Jahren entstand ein einziger bibliophiler Band mit keinem geringeren als Eduardo Chillida als künstlerischem Partner. Racine, der in Zürich beheimatet war, in Kunstkreisen verkehrte und sich gegen Vereinnahmung seiner Gedichte zur Wehr setzte, war auch in Paris, wo er ein zweites Domizil hatte, mit Persönlichkeiten wie Paul Celan verkehrte, nicht unbekannt unterwegs. Er schrieb auf Französisch und soll in einer Art Carceri-Wohnung voller Zettel gehaust haben. Diese Werke verbot er den nachfragenden Verlegern vor seinem Tod zu drucken und erst danach also ist eine dreibändige Werkausgabe des einzelgängerischen Dichters 2017 in Frankreich erschienen.
Früh von Felix Philipp Ingold für kleine Publikationen vereinzelt in Literaturzeitschriften übersetzt, hat Ingold nun aus jenen drei Bänden für den Limmat Verlag eine Auswahl getroffen, übertragen und unter dem Titel Lichtbruch herausgegeben. Um es vorweg zu nehmen, das Material ist großartig. Es ist voller Ecken und Kanten, vieles liest sich von einer Spontaneität wie tatsächlich Wohnungswände, ist scheinbar bewusst unabgeschlossen und ephemer. Anderes sind durchgestaltete Notate, die mit jeder neuen Schaffensphase Racines auch andere textgrafische Ausdrucksformen eingehen.
Dennoch kehrt Racine immer wieder zu einem Kernvokabular (Traum, Tod, Schnee, Leib, Nacht) zurück, ja ergibt sich geradezu der Wiederholung, ist fürwahr ein Gefangener seiner Texte. Spirituelles mischt sich mit eigenartiger Stimmung, die so brüchig ist wie der Titel, die scheinbar stets bereit ist, sich selbst über den Mund zu fahren. Kürzeste Gedichte wechseln mit kurzen Gedichten, die selten länger als eine Seite gehen, oder ausnahmsweise mehrteiligen Zyklen, die die scheinbar etablierte Sprödigkeit erneut zerhacken. Verse wie „Ich will mein Haus kastrieren“ oder „In einem Winkel trinkt das Kind Kaffee/ es hat den Zeitungsverkäufer gefressen“ schieben sich wie gestürzte Bäume in den Fluss.
Ein frühes titelloses Gedicht geht:
Umschlungen auf seinem Leib
ruf ich mein Leben anderswohin
derweil sein Schweiss
(im Schweiss seiner Gegenwart)
mir die Zähne entkeimen will
Der letzte Verstand
verrinnt längs meines endenden Trottoirs
Man hat ihn mit einem Irren eingesperrt
Ingold liefert eine konzentrierte Übertragung ab, macht nicht den Fehler, Racines enorme vokale Klanglichkeit irgend zu reproduzieren – unmöglich – sondern schafft eine existenzielle Klarheit und Ernsthaftigkeit in diese zerbrochene Lichtlandschaft, die einen schwer loslässt.
Oft, wie nicht selten bei Notaten, drängt sich die Geste des Schreibens selbst ins Notierte hinein, entdeckt vielleicht ein wenig poetologisches:
Knäuel, das ausläuft beim Schreiben und das die Hände verlässt, die es entknoten.
Dieses Knäuel ist eingelassen, gewinnt Form auf jeder Seite, die ausgeschrieben wird, Knäuel, worin Tod, Nichtsein, Existenz vereint sind. Dieses Knäuel bestimmt die besondere Beschaffenheit der weissen Seite. Es entknoten? Gewiss nicht. Beim Besteigen der Seite greif ich’s mir einfach. Werde ich wohl (ein Wunder) die Weide wechseln? Zustehn wird’s mir nicht. Ein Kappengrat wird es im Weidwechsel grüssen, der als blosses Wissen einer schönen Zugehörigkeit den Vortritt lässt. Ich lobe es mir, das sich in einen so langen Weg gewickelt hat an dem einzig schönen Morgen, der seine Augen hat auslaufen lassen ins unmenschliche Blau.
Eine häufig anzutreffende Form in Racines Lichtbruch sind Dreizeiler. Additiv oder zurückgelassen.
Nirgendwo schreibt sich die Liebe ein
Steinbrecherin
nein schreibt dich nirgends ein
Als sehr spannend sind die Bewegungen der einzelnen Gedichte zu verfolgen. Wie an anderer Stelle gesagt, scheint es sich selbst in die Quere zu kommen, die Brücke zunehmend ohne Ufer, was mache ich hier?
Asche
ich ängstige mich
die Augen standen in Flammen
wenn Nacht einfällt
und wieder einfällt
in sich selbst
dass Asche sie vollendet
Asche sich ängstigt
Charles Racine hat einen ungewöhnlichen Werkweg verfolgt. Diese Publikation sollte ihn schlagartig auch der deutschsprachigen Leserschaft bekannt machen. Sein existenzialistisches Justieren der Bremsen, seine Konsequenz macht neugierig auf mehr. Vorerst ist Lichtbruch eine erste beeindruckende Publikation. Wie von weit her.
Es gibt keinen Traum
der dem Jenseits innewohnt.
Ich sinne frontal.
Der Satz sinnt frontal.
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