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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Chronist des Augenblicks

Hamburg

Melancholischer Schiffbruch bereits auf dem Cover: Christian Saalberg in jungen Jahren am Steuer einer schrottreifen "Ente", durch die herabhängende Tür der Leserschaft einen lässig-lächelnden Gruß entbietend. Ein treffenderes Motiv hätte sich der Schöffling-Verlag für seine soeben erschienene Sammlung ausgewählter Gedichte Saalbergs aus 43 Schaffensjahren kaum aussuchen können, korrespondiert es doch mit dem Tenor der hier versammelten Verse auf subtile Weise: vom Surrealen geprägt, von hintergründiger Ironie und Weltweisheit, immer unmittelbar ansprechend trotz (oder wegen?) seiner wohltuend unkonventionellen Metaphorik, die nach all den Jahren immer noch auf der Höhe der Zeit wirkt, mehr noch: vielleicht jetzt erst so recht zur Entdeckung ansteht.

Denn Christian Saalberg, der im bürgerlichen Leben Christian-Udo Rusche hieß und als Rechtsanwalt in Kronshagen bei Kiel lebte und arbeitete, ist ein Verspäteter, einer, dessen eigentliche Würdigung trotz einiger renommierter Preise zu Lebzeiten noch bevorzustehen scheint. Saalberg nannte er sich in einem Akt poetischer Selbstkonstituierung nach dem Ort im Riesengebirge, in welchem er im Sommerhaus der Familie einen guten Teil seiner Kindheit und Jugend verbrachte. Der 1926 in Schlesien geborene und 2006 in Schleswig-Holstein verstorbene Dichter passte in den frühen 1960er Jahren, in welchen er lyrisch zu arbeiten begann, so recht in keine Tasche: "Vor allem Texten, die sich an der französischen Moderne orientierten, unterstellte man Manierismus und gewollte Unverständlichkeit", wie es Jürgen Brôcan in seinem kenntnisreichen Nachwort formuliert.

Doch trotz der Wurzeln des saalbergschen Lyrikschaffens im Surrealen etwa eines René Char oder eines André Breton sind seine Verse von Anfang an gerade nicht in ein unzugängliches Dunkel getaucht, wozu seine stets klare Syntax wesentlich beiträgt. Das unangenehm Gekünstelte an falsch verstandener Moderne entsteht ja nicht selten gerade durch grammatikalische Schlachtfeste, die sich als unfähig erweisen, ihren semantischen Gehalt zu tragen. Saalberg hingegen benutzt klare Aussagesätze, die kühne Bilder aneinanderfügen, welche über die Assoziationen der Leserschaft durchaus einzuordnen sind:

"Draußen sind Kulissenschieber am Werk. / Mit einem Kraftakt stemmt der Tag / Die Klippen auseinander/ Und auf der Bühne erscheint der Heddon,1 / Stürzt sich vor unseren Augen / Kopfüber ins Meer. / Tosend brandet der Beifall auf."

Tag und Fluss werden zu handelnden Personen, die Landschaft zur Bühne, das Publikum dieser Szene ist das eigentlich Disparate an diesem Gedicht: es setzt sich aus einem latent im Hintergrund vorhandenen "lyrischen Wir" und dem freilich auf erster Ebene vom Wasser erzeugten "Beifall" zusammen. Dies sind die großen Würfe seiner frühen Gedichte, wenn er bereits über festgefügte Formen wie Sonett und liedhafte vierzeilige Strophenbauten zu freien Versen findet, die sich seine sperrige Metaphorik wie selbstverständlich aneignet. Saalberg verliert dabei, trotz wechselnder Metrik, nie den inneren Rhythmus oder gerade auch eine angespannte Ruhe, wenn sie ihm für das Gedicht erforderlich scheint:

"Ermüdungserscheinungen / im Garten, / nicht zu übersehen. / Erschöpft vom Tageslauf / legt sich das Licht auf den Rasen, / streckt die Glieder, ruht sich aus. / [...] Unerwarteter Zusammenstoß im Dorf: / Der Kirchturm wehrt sich, / teilt zwölf Schläge aus. // Betroffene Stille. Der Mittag, / dieser Hypnotiseur, betrachtet / zufrieden sein Werk."

Rätsel und Geheimnis begegnen vielmehr dem Dichter Christian Saalberg selbst auf Schritt und Tritt beim Beobachten von Natur und persönlichem Umfeld; seine Lyrik ist keine Antwort, wohl aber ein fortgesetzter Kommentar zur Frage nach dem Wesen der Vergänglichkeit und ihren Manifestationen, nach dem existenziell wahrgenommenen Werden und Vergehen. Wie Jürgen Brôcan schreibt: seine "Dichtung gleicht einem Photonegativ, das man gegen das grelle Licht hält."

Die häufige thematische Beschäftigung mit dem Tod ist von seinem Frühwerk bis in die posthum veröffentlichten Gedichte stets präsent. Doch Saalberg ist keiner, dem die Vergeblichkeit den Füller aus der Hand zu schlagen verstünde. Er ist ein Chronist des Augenblicks, was in sich ja eigentlich ein Widerspruch wäre, denn der Chronist muss Ereignisse und Zeiträume kontinuierlich abzubilden und nachvollziehbar zu machen suchen; doch durch die Aneinanderreihung von Momentaufnahmen, die in lyrische Bilder umgesetzt werden, entsteht etwas Einzigartiges, das dennoch beispielhaft wirkt und ein eigenes Lebens-Werk begründet, das trotz aller Unsicherheit in Beziehung auf Ort und Zeit eine menschliche wie schriftstellerische Kontinuität erkennen lässt. Die von Mirko Bonné und Viola Rusche, der Tochter Christian Saalbergs, liebevoll zusammengestellten und kommentierten Gedichte zeugen davon; Motive der frühen Gedichte, oft der Natur entlehnt wie Wind, Bäume, Vögel oder Meer, finden sich auch in den späten Texten in anverwandelter Weise wieder:

"KOMM,  GROSSER WIND, wehe, lege ein Lächeln / auf mein Grab. // Das Leben wirft uns an Land, wie einen / Ertrunkenen das Meer. / Mein Leben. / Ich habe nicht einmal ein Taschentuch, / ihm hinterher zu winken. // Die Jahre verzetteln sich, eingebildete / Kranke, die den sanften Vögeln die Bäume / Neiden, in denen sie sich abends niederlassen, / um zu sterben."

Auch die poetische Arbeit selbst bedichtet Saalberg nicht nur vom Beginn seines lyrischen Schaffens an, sondern schreibt davon auch in seinen Vorworten zu den Gedichtbänden, von denen einige in dieser Zusammenstellung mit abgedruckt sind; sein erstes Buch von 1963 trägt den Titel "Die schöne Gärtnerin", Saalbergs Einführung beginnt mit dem Satz: "Das Wort ist ein Flüchtling, seine Zuflucht das Gedicht." Das Gedicht ist ihm nichts anderes als "das Protokoll einer gelungenen Flucht."

In einem seiner späten Werke, "Namenloses Gehölz" betitelt, bekennt er: "Das Wort, nach dem ich suchte, habe ich nicht gefunden." Doch auch dies lässt ihn nicht wirklich resignieren, denn "[w]enn alles zu Ende geht, spreche ich noch einmal das Wort ANFANG aus."

Die ultimative Verknappung diskursiver Lyrikdebatten über alle Zeiten hinweg gelingt Saalberg ohnehin mit dem folgenden Gedicht, welches wie ein ironischer Abschiedsgruß auf dem Rücktitel des über 380 Seiten starken leinengebundenden Bandes eingeprägt ist:

Mit der Dichtkunst / ist das so: // Die Wörter wollen / aufgeschrieben werden, / weiter nichts. // Gott weiß, warum."

 

 

  • 1. Fluss in Devon/Südengland
Christian Saalberg · Viola Rusche (Hg.) · Mirko Bonné (Hg.)
In der dritten Minute der Morgenröte
Mit einem Nachwort von Jürgen Brôcan
Schöffling Verlag
392 Seiten · 32,00 Euro
ISBN:
978-3-89561-016-5

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