Im Satz der Elster
Er wird nicht nass, nirgendwo auf der Welt. So beschreibt Clemens J. Setz den Schweizer Schriftsteller Christian Kracht. Damit liefert er eines der schönsten und zugleich analytisch wertvollsten Sprachbilder der in der aktuellen Text+Kritik-Ausgabe versammelten Beiträge. Er hatte sich, so der prosaische Bericht, mit Kracht in einem Pub in Dublin getroffen. „Und als ich mich von ihm verabschiedete, fiel diese Schutzblase weg und ich war nach wenigen Minuten regendurchgeweicht und fror entsetzlich.“ So fein in dieser Schlusspassage in das Freundschaftsempfinden hineingefühlt wird, so minutiös ist sie arrangiert. Geht man durch sie hindurch, dann steht man mit einem Schlag in der merkwürdigen Landschaft „Christian Kracht“. Setz schreibt weiter: „Ich bemerkte nun auch, dass mein Hotel sich gegenüber einer Hausfassade befand, hinter der überhaupt nichts war, ja, man sah durch die Fenster in die leere Luft, vermutlich war das Haus dahinter vor Kurzem abgerissen worden.“ Die Leere allerdings, in die der Blick durch die Wand fällt, ist eine von Kracht beschriebene. Sichtbar wird in ihr die „Schweizer Sowjet Republik“, genauer, die Außenbezirke Neu-Berns, Breitenrain und Lorraine, über die man in „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ (2008) erfährt: „Bei einigen bombardierten Häusern waren nur Hausfronten übriggeblieben, Fassaden. Sie standen am Strassenrand oder etwas weiter hinten auf einem Feld, ohne Dach, nur die Hausmauer selbst war zu sehen.“ In dieser leicht verrückten Zitierung findet Setz eine Form, in der sowohl eine schriftstellerische Zuneigung als auch ein tiefes Verständnis für den Zauber der Literatur Krachts zum Ausdruck kommen. Denn die Verwirrung nach dem Platzen der „Schutzblase“ ist so etwas wie der Urknall in der Literatur von Christian Kracht. Er selber ist dann schon wieder weg – das gehört mit zur Ironie, die seine Texte durchzieht.
So versammeln sich um Setz in dem Innenhof des Hotels in Dublin nicht nur der in „Faserland“ (1995) von seinem melancholischen Besucher so herzlos alleine gelassene Rollo, sondern auch der auf seiner Südseeinsel von allen Anhängern verlassene Kokovore August Engelhardt. Da die Figuren von Christian Kracht selten beziehungsfähig sind, gehören die erlittenen oder erwirkten Abschiede zu den wiederkehrenden und formgebenden Elementen seiner Romane. Eindrucksvoll ist die Abschiedskaskade in „Imperium“ (2012). Nicht nur Engelhardt muss immer wieder die Abreise von Zugereisten verkraften, sondern auch Nebenfiguren wie Kapitän Slütters können nicht halten, was ihnen lieb ist. Pandorra, das junge, von ihm in Sydney vor Polizisten gerettete Mädchen, verlässt mit Engelhardts Ex-Gehilfen Makeli die Inselstadt Rabaul anstatt seine angekitschte Seemannsliebe zu erwidern. In der für „Imperium“ typischen Bindung zweier gegensätzlicher Bewegungen schreibt Kracht diesen herzschweren Satz: „Slütter nimmt Abschied von Pandorra, und es zerreißt ihm die Seele.“ In „Faserland“ spielen die Abschiede nicht nur auf der narrativen Ebene eine große Rolle. Sie bilden zugleich die Struktur der Erzählung. Meist heimlich verlässt der Ich-Erzähler einen Bekannten und stolpert in die nächste Begegnung, kommt allerdings weder in Sylt, Hamburg, Heidelberg, Frankfurt, München oder Meersburg wirklich zur Ruhe, bis er „in der Mitte“ des Zürichsees wohl seinen letzten Abschied nimmt.
Isabelle Stauffer und Björn Weyand sprechen diesbezüglich von Krachts Figuren als „postmodernen Nomaden, die beständig einsam unterwegs“ sind. (S. 54). In ihrem Artikel „Zum Figureninventar von Christian Krachts Romanen“ legen sie ein großangelegtes Register der unterschiedlichen Spuren im physischen und psychischen Haushalt der Charaktere an und bestimmen darin weitere Kontinuitäten: Alle Protagonisten Krachts seien „Antihelden“, zudem die Hauptfiguren stets männlich und die Nebenfiguren oft „geheimnisvolle oder unerreichbare Frauen“ oder „homo- oder bisexuelle Männer“. Bei aller Akribie, mit der die Beiden kategorisieren, verfehlen sie die von Kracht in seinen Figuren angelegte Doppel- oder Mehrförmigkeit. Die Nüchternheit ihres Anliegens, das durch den Verweis die „Steigerung der Figurenzeichnung ins Surrealistisch-Phantastische“ mitdenken zu wollen, eher noch verstärkt als gebrochen wird, steht der Leseerfahrung fern. Die komische Tragödie Engelhardts als von der Welt vergessener Eremit nach Jahren der Einsamkeit von amerikanischen Soldaten entdeckt und zum Hollywood-Stoff verarbeitet zu werden, ist von der Übersicht ebenso wenig einzufangen, wie die paradoxale Verschränkung zwischen Arbeitslager und Erlösung im Falle der Hauptfigur in „1979“ (2001).
Immanuel Nover kommt diesen vom Leben verfolgten Protagonisten näher, wenn er in seinem Beitrag „Diskurse des Extremen. Autorenschaft als Skandal“ von der „ironischen Brechung“ spricht, mit der Kracht sowohl seine Protagonisten als auch sein eigenes Schreiben versehe. Den sich daraus ergebenden „komplexen selbstreferentiellen Beziehungen“ widmet sich Till Huber in seinem Beitrag „Andere Texte. Christian Krachts Nebenwerk zwischen Pop-Journalismus und Docu-Fiction“. Nicht zuletzt das Cover der Text+Kritik-Ausgabe zeugt von der von Huber festgestellten „Unmöglichkeit der Unterscheidung von faktualem und fiktionalem Erzählen“: Denn Krachts Autorenportrait entspricht dem Vorstellungsbild des Eremiten Engelhardt und vice versa.
Dass die wissenschaftlichen Beiträge der Ausgabe insgesamt bemüht wirken, mag unter anderem an der Fähigkeit Krachts liegen, sich immer wieder zu entziehen – und zwar, wenn man meint ihn gefasst zu haben. Was Setz mit seiner eigenen Ironie so geschmeidig in Umlauf bringt – also Kracht, der ihn im Regen stehen lässt – ist ohne weiteres auf das Verhältnis zwischen dem Schriftsteller und der Kritik auszuweiten. Wie Helge Malchow, Krachts Verleger bei Kiepenheuer&Witsch, im Gespräch mit Christoph Kleinschmidt betont, ist der Schweizer „im hermeneutischen Wettrennen mit Kritikern und Rezensenten, selbst mit den wohlwollenden, die auf das nächste Buch warten, immer schneller als diese.“ Daniel Kehlmann stellt in seinem Beitrag „Über 'Faserland'“– dem zweiten literarischen Text der Ausgabe – den positiven Effekt dieser endlosen Lesereise aus, wenn er betont, dass man „bei jeder neuen 'Faserland'-Lektüre Kleinigkeiten finden wird, die man vorher übersehen hat“ und man sich „jedes Mal über die Arroganz des Erzählers ärgern und ihn doch mehr mögen wird, als man es eigentlich möchte.“
Die Eigenschaft Krachts, sich und den Text ständig zu untertunneln und dadurch einer finalen Festlegung zu entziehen, ist von den hervorragend recherchierten und sinnvoll argumentierten Artikeln der Ausgabe nicht einzuholen. Man würde jedoch eine Chance vergeben, dieses leicht Danebene der wissenschaftlichen Beiträge nur als Kritik zu verstehen. Denn womöglich vermittelt sich in der Verfehlung des wissenschaftlichen Begriffsanspruchs die auch von den Autoren und Autorinnen unterschiedlich thematisierte halluzinative Wirkung der Literatur von Christian Kracht am eindringlichsten. Dass sich in dem Hallraum der Lektüre von Krachts Romanen allerdings auch das Fliegen lernen lässt, bringt Setz mit seiner Prosa eindrucksvoll zur Geltung. Im letzten Satz seines Beitrags lässt er „sich im Flug wunderschön auffaltende Elstern durch eines der zimmerlosen, nur freie Wolken beherbergenden Fenster der Fassade“ tauchen. Zu einem Vogel zu werden, der aus dem Schatz der Literatur die Goldstücke klaut, ist wohl die schönste Art und Weise zu Lesen und zu Schreiben – auch oder gerade Christian Kracht.
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