Bruchstücke des Weltwissens
Das „Geheimnis“ von Weinbergers Essays ist vielleicht die absolute Unbekümmertheit seines Autors, oder seine unstillbare Neugier. Eliot Weinberger, der 1949 in New York geborene Essayist, politische Kommentator und Übersetzer sowie Herausgeber, fliegt über die Grenzen, als wären sie schlicht nicht vorhanden, für ihn gibt es weder eine Trennung zwischen Wissenschaft und Gedichten, noch zwischen Adam und Eva und den Vogelgeistern eines Maori Künstlers.
In „Vogelgeister“ sucht der Leser vergeblich nach einem Kommentar zu den unterschiedlichen Texten, oder nach Überleitungen. Weinberger lässt den Leser allein mit der Natur der Texte. Und mit der Unsicherheit, welche Schriften Weinberger tatsächlich bei seinen Recherchen gefunden hat, und welche seiner eigenen Fantasie entsprungen sind. Als Antwort im Gespräch mit den Quellen, den Vogelgeistern abgelauscht.
Der 2017 erschienene Essayband, der sich Weinberger zufolge als Fortsetzung des seriellen Essays „Das Wesentliche“ (Berenberg Verlag, 2008) versteht, beginnt mit einer alle gewohnten Perspektiven und Lesarten verschiebenden Erzählung über Adam und Eva. Weil die Genesis erstaunlich wenig über die ersten Menschen aussagt, macht sich Weinberger auf die Suche nach weiteren Quellen. Und er wird fündig. In griechischen Quellen konzentriert sich die Vertreibung aus dem Paradies auf den Hunger. Kain ist ein Albino, der über unheilbringende Fähigkeiten verfügt. In der lateinischen Fassung wird die „menschliche Schwäche nicht der menschlichen Natur zugeschrieben, sondern der Natur an sich, die in unseren Zellen eingeschlossen ist:
„Man muss wissen, dass Adams Körper aus acht Teilen geformt wurde. Der erste Teil war aus dem Staub der Erde, daraus wurde sein Fleisch gemacht, und somit war er träge. Der nächste Teil war aus dem Meer, daraus wurde sein Blut gemacht, und somit war er ziellos und flüchtig. Der dritte Teil war aus den Steinen der Erde, daraus wurden seine Knochen gemacht, und somit war er hart und gierig. Der vierte Teil war aus den Wolken, daraus wurden seine Gedanken gemacht, und somit war er maßlos. Der fünfte Teil war aus dem Wind, daraus wurde sein Atem gemacht, und somit war er launisch. D“er sechste Teil war aus der Sonne, daraus wurden seine Augen gemacht, und somit war er stattlich und schön. Der siebte Teil war aus dem Licht der Welt, daraus wurde er gefällig gemacht, und somit hatte er Erkenntnis. Der achte Teil war aus dem Heiligen Geist, daraus wurde seine Seele gemacht, und somit sind die Bischöfe, Priester und alle Heiligen und Auserwählten von Gott.
Eine Erzählung von träumend dichtenden Chinesen folgt auf die Abenteuer des Mael Duin (Von 673 – 688 König des irisch schottischen Reiches Dalriada). Die Texte mäandern durch Welt und Zeit. Einige der Abhandlungen verdanken sich der Auseinandersetzung mit bildender Kunst. So entstand „Ein Steinkalender“ inspiriert durch die Kunstwerke von Teresita Fernández, und „Vogelgeister“ bezieht sich auf Motive aus Shane Cottons Gemälden.
Weinbergers Sätze beinhalten wunderbare Paradoxien und steinalte Weisheiten. Und all diese sehr speziellen Wortgebilde hat Beatrice Faßbender kongenial ins Deutsche übersetzt.
„Ein Stein ist hart und beständig; daher ist er im Wandel.“
Auf eine subtile, untergründige Art, ähnlich paradox wie der oben zitierte Satz, oder das menschliche Leben an sich, hängen die scheinbar willkürlich zusammengewürfelten Texte dann eben doch zusammen. Seien es die Motive, wie Tod und Traum, oder einfach die Erfahrung, dass es unzählige Dinge auf dieser Welt gibt, die wir weder uns noch anderen erklären können, und die dennoch (oder gerade deswegen) von einer erhabenen Schönheit sind.
Vor diesem Hintergrund scheint es nur folgerichtig, dass die Sammlung der Motive und Überlegungen in „Vogelgeister“ von einer barocken Beliebigkeit zeugt, in der der unfassbar gebildete Weinberger seine Wissensbrocken, als Bruchstücke des Weltwissens anordnet. Ein Wissen, das die gewohnten Assoziationen zuweilen auf den Kopf stellt. Statt den Herbst mit dem Einbringen der Ernte und leuchtenden Farben in Verbindung zu bringen ist er bei Weinberger „[…] Henker von Beruf. Die Finsternis sein Zeichen.“
Die Bibliographie, die den Vogelgeistern hinten angestellt ist, in Klammern „Der Wolkenbücherschrank“ beinhaltet Werke wie „Versuch über die Tiefen des Verstandes in der großen Leere“, oder ein „Handbuch zur Herstellung von schwarzem Frost“, eine „Schrift zur Bewahrung verstorbener Eltern vor Unbill in späteren Leben.“ Tatsächlich ist der „Wolkenbücherschrank“ ein Kapitel für sich. Und ein Beweis, dass Eliot Weinberger ein großer Arrangeur ist, er ordnet das Wissen, das er durch zahllose Quellen und Anregungen gewinnt, unkommentiert und scheinbar willkürlich an, aber rätselhafterweise dennoch auf eine Art, dass es für sich spricht. Weinberger selbst möchte seine Bücher als eine Art Sofa verstanden wissen. In einem Interview mit Hal Hlavinka sagte Weinberger: „I always want my books to be a kind of couch. You read a few pages in the late afternoon, fall asleep, and have a memorable dream.“
Weil es Grenzen nicht gibt, ebenso wenig wie ein Ende der Neugier.
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