Das Tränenreich
Sätze können geschrieben werden, und je rätselhafter sie wirken, desto wirkungsvoller können sie sein: „Photographieren heißt sterben lernen“ ist solch ein Satz, über den sich ausführlich spekulieren lässt. Wo das nicht hilft, lässt sich immer noch staunen. Über die Diktion, über die Entschiedenheit, mit der ein solcher Satz gefällt wird, angesichts einer Fotografie, die einen Affen zeigt, der Menschen fotografiert.
Allerdings lassen sich zu diesem Satz Variationen bilden, deren Plausibilität mit einem Mal aufscheint, so etwa „Photographieren heißt töten helfen“. Seine Eingängigkeit erklärt sich mit dem Verweis auf den Fotografen, der im Jahr 1938 den fotografierenden Affen ebenso festhält wie eine inszenierte Razzia im Ghetto Lublin zwei Jahre später. Das katastrophische 20. Jahrhundert schwingt eben in solchen Abhandlungen immer gleich mit. Und das erst recht, wenn ein solches erstes Kapitel in Überlegungen zum inszenierten Schnappschuss münden, mit dem dann zum nächsten Abschnitt übergeleitet wird. Was wird dem folgen?
Marcel Beyer ist eine prominente Gestalt. Mit seinem Debutroman „Menschenfleisch“ aus dem Jahr 1991 schrieb er sich in die deutschsprachige Gegenwartsliteratur ein. Der fulminante Roman „Flughunde“, vier Jahre später erschienen, war wohl das, was man seinen Durchbruch nennen darf. Seitdem war Beyer, ein grandios gelehrter Schriftsteller, immer präsent, einer jener produktiven Autoren der Gegenwartsavantgarde, die ihre Literatur immer sehr bewusst an den Grenzen des jeweils literarisch Machbaren platziert haben. Der Büchner-Preis 2016 war deshalb eine überfällige Bestätigung dafür, dass wir es bei Beyer mit einem literarischen Schwergewicht zu tun haben.
Da muss man sich schon ganz anders hinsetzen zur Lektüre. Das macht neugierig und aufmerksam, immer aufs Neue. Eben auch auf diesen neuen Text „Das blindgeweinte Jahrhundert“, von dem sich vieles erwarten ließ, eine literarische Exkursion ins Politische, eine Reflexion über eine Zeit, von der wir immer noch nicht wissen, ob sie eine schwere Erblast oder ein Plattform ist, von der aus wir uns weiterschwingen können. Ja, der Fortschrittsoptimismus lässt einen nicht los.
Allein, die Paratexte zum „Blindgeweinten Jahrhundert“ dämpfen die Erwartungen und zeigen wenig Erfreuliches: der Tod, ein Meister aus Deutschland, Dichtung nach Auschwitz, eine Literatur, die ihre Entstehung wie zeitgenössische Tendenzen reflektiert, ja selbst der Verweis auf Roland Barthes Frage, wer denn die „Geschichte der Tränen“ schreiben werde – diese Reihe zeigt an, dass wir es hier mit einem literarischen Schwergewicht zu tun haben, mit einem Autor, der nicht so einfach abzutun ist in den literarischen Konjunkturen und der Abfolge der jeweiligen Neuerscheinungen. Immerhin gehen diese Texte ja auch auf Beyers Frankfurter Poetik-Vorlesungen zurück, was erklärt, weshalb die Sprache einen so prominenten Platz in Beyers Reflexionen erhält: „Ich bin die Sprache, und ich brauche die Wirklichkeit nicht, aber die Wirklichkeit ist nichts ohne mich“, heißt es angesichts des Satzes „Weißt du denn nicht, wer ich bin?“
Die Unabhängigkeit der Sprache von Realität ist ein altes Thema, gern genommen von denen, die sich ihr dann gänzlich widmen können. Dem entspricht jener Typus, dem sich auch Beyer zuschlägt, wenn er – wenige Seiten später – über sein zwiespältiges Verhältnis zur Sprache räsoniert. Er hadere den einen Tag mit der Sprache, fremdele mit ihr, als hätten beide noch nichts miteinander zu tun gehabt, um sich am nächsten Tag (ein solcher Wankelmut ist eben Sprachsache) vom Schreiben, will wohl meinen Sprachrausch davontragen zu lassen. Das wäre dann doch wohl gelacht, wenn denn dabei nicht die Haare zu Berge stünden, der Protagonist nicht eine Regung wie Hitze empfände oder das Gefühl, in der Sprache zu zerfließen, womit er dann endlich den Tränen nahe genug gekommen ist.
Die Träne ist es denn auch, die es ihm angetan hat. Beginnend mit dem Busenattentat auf den kurz darauf verstorbenen Theodor W. Adorno über den Fall Strauss-Kahn und über den nicht weniger satisfaktionsfähigen Ignatio de Loyola, der seitenweise in Tränen aufgeht, bis hin zu – ja, tatsächlich, – Heintje.
Was die Fallhöhe von Beyers Reflexionen andeutet: Es mag tatsächlich heute eine Generation geben, die Heintje nicht mehr kennt (obwohl er anscheinend immer noch Platten produziert). Aber Beyer, 1965 geboren, kann nicht an Heintje vorbei, immerhin wird bei Heintje kräftig geweint, oder eben nicht: „Mama, du sollst doch nicht um deinen Jungen weinen“. Da fließt jedes großmütterliche Herz dahin. Und spätestens mit dem Eingeständnis, dass man Beyer als Kind (also wohl um 1975) Ähnlichkeit mit dem zehn Jahre älteren Kinderstar nachgesagt habe, ist die Beschäftigung mit Heintje legitimiert. Erinnerung ist ein produktiver Akt, wie wir wissen (darin der Sprache nicht unähnlich). Aber der Eifer, mit dem sich Beyer in die Causa Heintje wirft, irritiert doch – selbst wenn mit ihr der Zwiespalt zwischen Holocaust und Heimeligkeit aufscheint, die des Deutschen größten Extreme bleiben werden. Denn mit derselben stilistischen Gangart, mit der er den angeblichen Tränen Adornos, dem sistierenden Foto des Armeeberichterstatters Hilmar Pabel oder seinen Erinnerungen an Friedrich Kittler nachspürt, geht er auch auf Heintje los.
Eine der sieben stilistischen Todsünden ist der Manierismus, die in sich selbst verliebte stilistische Ziselierarbeit, die immer dann droht, wenn es ein Autor mit seiner Sprache ganz genau machen will. Dann sucht er sich nämlich nicht mehr aus, er trifft eine Wahl. Ein Krawattenknoten wird dann selbstverständlich geschwungen, luftig in diesem Fall sogar. Tränen stehen dann in Augen. Die Sprache wird schwer und gemächlich. Sie setzt Fett an, schlimmer noch, sie gerät mit einem Mal gefährlich in Klischeenähe: „Wären da keine Winterbrachen, diese sanft ansteigenden Kräuterfelder …“. Ja, wären sie nicht da …
… wäre das Klischee weiter weg, zum Beispiel das des lieblos zusammengestellten deutschen Gewerbegebiets, in dem „Kombinationen, die bei jedem zivilisierten Wesen Unbehagen auslösen“ „etwas zutiefst Beruhigendes“ haben. Oder der Gedanke „dem Schläfer“ verschaffe „in der Welt der Deutschen“ „im Wachzustand schon allein der Gedanke, ein Mensch könne durchaus auch unsystematisch schlafen, Alpträume“. Was es so alles in der Welt der Deutschen gibt, das beim zivilisierten Wesen Unbehagen auslöst, oder etwa beim Leser.
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