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Kritik

Gepflegte Endreimstimmung

Hamburg

[…] Gegessen wird,
was sich aus Tiefkühlware,
Mehl und Worten machen läßt. […]

GRAPHIT lautet der Titel des neuen und mit 201 Seiten recht umfangreichen Gedichtbandes von Marcel Beyer. GRAPHIT lässt einerseits an die Farbe Graphit denken, besonders naheliegend, da der Einband grau, also graphitfarben ist. Andererseits lässt GRAPHIT an Materialität denken. Versteckt sich in dem einen Wort möglicherweise schon das Programm des ganzen Gedichtbandes? Denkt man Farbe und Materialität etwas weiter, als visuelle und haptische Eindrücke, so kann man GRAPHIT tatsächlich als Schlüsselbegriff für den Gedichtband bezeichnen. 

Der Titel hat es wirklich in sich. So einfach klar und fest er sich gibt, öffnet er doch zugleich einen großen Assoziationsraum. Dabei muss ich unwillkürlich an zweierlei denken: an concrete (konkrete Poesie oder Beton) und an ein ganz bestimmtes Gedicht von Ernst Jandl (aus Sprechblasen):

harte vögel
 

für hitchcock

granit
gragranitnit
gragragranitnitnit
gragragragranitnitnitnit
gragragragragranitnitnitnitnit
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Ein Merkmal der Gedichte von Marcel Beyer ist ihre Bildlichkeit. Viele Gedichte sind richtiggehende Bildbeschreibungen und man vermeint das entsprechende Foto genau vor sich zu sehen. Besonders eindrücklich ist dabei das Gedicht DAS RHEINLAND STIRBT ZULETZT, in dem es um den Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln mitsamt rund 30 Regalkilometern im Jahr 2009 geht. Ob es die Fotos tatsächlich gibt, oder ob es sich dabei um Fotos handelt, die gemacht werden hätten können, wäre nur ein Fotograph im richtigen Moment zugegen gewesen, spielt dabei keinerlei Rolle:

VIII
Nachts ist kein Fernsehen
da. Kein RTL Halten
Sie dieses schrumpelige
Blatt mal in die Sonne,

[…] Sind mundfaul
nachts. Bildfaul. Wenigstens
das. Nachts ist da nur
der Feuerwehrphotograph,
und der packt grad,

wie zufällig, als gebe es
nichts mehr zu tun,
zu sehen, festzuhalten,
seine Kamera weg.

Marcel Beyer arbeitet fast filmisch, wenn er die Gedichtteile wie einzelne Bildeinstellungen aufeinander folgen lässt. An Filmeinstellungen zu denken, ist gerade beim allerersten Gedicht, GRAPHIT, naheliegend, da es darin unter anderem auch um Filmdreharbeiten geht. Das große Thema des Gedichts ist Kunstschnee in all seinen Facetten: der Schneimeister mit Strickmütze und Daunenjacke in seinem Pistenbully am künstlichen Hang. Dreharbeiten von Schnittmeister Eisenstein vor Moskau im Hochsommer ’38, der mittels Roden, Einebnen, Asphaltieren, Naphthalin und Kreide den tiefwinterlichen Peipussee 1242 nachstellt. Oder dreihundertfünfundsechzig Tage Windstille in der Skihalle. 

Die Sprache der Gedichte ist immer wieder erfrischend uneitel und direkt, wie man es sich öfter bei Lyrik wünschen würde: 

[…] Ich möchte mir einen
Nickipullover überziehn, es riecht nach
Katzenpisse in meiner Erinnerung. […]

Mit größter Begeisterung sammelt Marcel Beyer Dialektwörter und bettet sie in seine Gedichte ein. „Ich muß hinunter in die Dialekte // steigen“ ist der Beginn eines Gedichts.  Dieses hinunter-Steigen in die Dialekte schlägt sich dann in den Gedichten vor allem in Form von Wortfunden nieder. Worte, welche wie ohne Zusammenhang irgendwo aufgeschnappt wurden und hängen blieben, wegen ihres ungewohnten Klanges oder Schriftbildes. Worte, die man nicht verstehen muss, um sich von ihrer seltsam fremd anmutenden Form oder ihrem Klang faszinieren zu lassen. Und Worte, die vielleicht gerade deswegen so faszinierend wirken, weil man sie nicht kennt oder gleich versteht und sich zuerst der reinen Materialität des Wortes gegenübersieht, wie z.B. bei „Plörren, Plünen, Prötel“ im Gedicht MISCHMUND:

Da kommt der Plutemann.
Der Plutemann macht
seine Runde. Er sammelt
Plörren, Plünen, Prötel [...]

Marcel Beyer verwendet immer wieder stehende Redewendungen und manipuliert sie leicht, so wird z.B. aus „Aber schuld sind immer die andern“ bei ihm:

Aber zweisprachig sind immer
die andern. […]

Selbstreflexivität findet man oft in den Gedichten. Dass in Gedichten über das Schreiben oder Sprache nachgedacht wird, ist nichts unbedingt seltenes. Die Art und Weise, wie Marcel Beyer das tut, ist aber doch recht ungewöhnlich. So hat er den Satz „Die Sprache ist ein Hund.“ im Gedicht IM WÖRTERBUCH absolut wörtlich genommen, mit all den Konsequenzen, die das so mit sich bringt:

II
Man muß dem Hund, dem Sprachhund
hier, als vorsichtiger Dealer
gegenübertreten. Die kleinste Prise
Hochdeutsch wirkt

auf ihn wie eine Droge, und ist er 
erst einmal auf den Geschmack
gekommen, hängt alles nur
von der geschickten Kommasetzung

ab. […]

201 Seiten ist ein imposanter Umfang bei einem Gedichtband. Eine Seitenzahl, über die man als Lyrikleser allein schon wegen ihrer Ungewöhnlichkeit staunt, sich als Marcel-Beyer-Fan ungemein freut und als Lyrikrezensent einerseits erleichtert ist, da man damit einen offensichtlichen und unbestreitbaren Grund/Vorwand/Ausrede hat, etwas mehr Zeit für die Rezension zu brauchen, andererseits bekommt man auch das schiere Gewicht des Buches zu spüren, trägt man es nur lange genug mit sich herum. 

Aber obwohl sich das folgende Zitat aus dem Gedicht DIE LETZTEN TÖDLICHEN GEDICHTE auch als Durchhalteparole lesen lässt: „besser, // man wartet erst die letzten // tödlichen Gedichte ab –“ so braucht es überhaupt keine Durchhalteparolen: 

IV
Ich weiß, die Luft ist nicht allein
zum Atmen da,
hier gibts schon lange keine
Raucherzimmer mehr,

man müßte ins Gelände, müßte
vor die Tür, besser,
man wartet erst die letzten
tödlichen Gedichte ab – 

Durchhalteparolen braucht es deswegen nicht, da der gesamte Gedichtband sehr dezent aber trotzdem als Ganzes durchkomponiert ist und damit einen starken Zusammenhalt aufweist, die einzelnen Gedichte zugleich aber so unterschiedlich sind, dass gar keine Langeweile aufkommen kann. 

Die zumeist mehrteiligen Gedichte enthalten viele Rückbezüge auf sich selbst, indem einzelne Worte mehrmals verwendet werden. Viele der mehrteiligen Gedichte vollführen auch richtiggehende Kreisschlüsse, wenn das Ende des Gedichts zurückführt zum Beginn und ein Wort oder Thema aus der ersten Zeile im ersten Gedichtteil in der letzten Zeile im letzten Gedichtteil wieder aufgegriffen wird. So lässt sich das beispielsweise im sechsteiligen Gedicht LAMBADAMASCHINE beobachten. Es beginnt mit den Worten:

Gut ist die Luft, wenn wir
sie nicht zu deutlich 
atmen, […]

Und der letzte Teil davon endet mit dem Satz:

[…] Soviel zum
Niedlichsein, die Luft ist gut.

Marcel Beyer arbeitet auch sehr schön mit Überschneidungen, wenn ein Wort aus einem Gedicht als Stichwort für das nächste Gedicht aufgegriffen wird und damit beide Gedichte sofort miteinander kurzgeschlossen werden. Ein besonders offensichtliches Beispiel hierfür ist das Wort „Endreim“, welches sich gegen Ende des vierten und letzten Teiles des Gedichtes DIE RETTENDE ZEILE findet:

[…] Ich trete die 
Flucht in den Endreim an, […]

Und diese „Flucht in den Endreim“ wird dann tatsächlich ausgeführt, denn das nächste Gedicht trägt den Titel ENDREIMSTIMMUNG:

V
Gepflegte Endreimstimmung. Kurz
nach zwei. Keiner hier kennt
den anderen, aber man sieht, jeder
von ihnen denkt das gleiche. […]

Themen, die Marcel Beyer schon lange beschäftigen, werden auch in seinen Gedichten in GRAPHIT wieder angesprochen. In seinem Roman Kaltenburg wird in einem Gespräch zwischen einem älteren Ornithologen und einer jungen Dolmetscherin sehr ausführlich über die richtige Benennung und die unterschiedlichen Namen von Vögeln in verschiedenen Ländern gesprochen:

[...] Also, unterbrach ich sie, auf keinen Fall den Stieglitz als Goldfinken ausgeben und ihn am Ende noch in eine Reihe mit dem Schneefinken, dem Snowfinch, stellen, der gar kein Fink, sondern ein Sperling ist, so wie sie auch den Scarlet Rosefinch nicht als Rosenfink übersetzen dürfe, das sei im Deutschen der Karmingimpel, und Rosenfink heiße er nur in Schweden. [...]
Hüten Sie sich davor, Sparrow und Sparrow miteinander zu verwechseln. Denn je nachdem, ob Sie es mit einem Engländer oder einem Amerikaner zu tun haben, meint er entweder die echten Sperlinge oder die Ammern der neuen Welt, welche hier allerdings höchstens einmal als über den Atlantik verdriftete Irrgäste anzutreffen sind. [...]

Vögel sind auch im Gedichtband GRAPHIT sehr präsent, wenn auch nicht ganz so vorrangig, wie in Kaltenburg. Auch im Gedichtband wird die Frage nach der richtigen Benennung eines Vogels gestellt, allerdings sehr knapp gefasst:

[…] Man pokelt,
man baggert an der Sprache, SPATZ
oder SPERLING? Stundenlang. […]

Etwas allgemeiner wird im Gedicht mit dem Titel IM WÖRTERBUCH über „Natur“, nicht über einen bestimmten Vogel, gesprochen. Doch auch hier wird die unterschiedliche Benennung je nach Land angesprochen, wenn es kurz und bündig heißt, dass die Natur einfach unter einem anderen Namen ins Ausland gehe: 

[…] Ob die Natur ins Ausland
geht? Gewiß, und zwar ganz
von allein, nur eben unter anderem
Namen, so ist sie es gewohnt, […]

Marcel Beyer ist ein großer Erzähler, der die Kunst beherrscht, keinen großen Anlass zu benötigen, um ins Erzählen zu kommen, sondern der einfach so drauf los erzählen kann und dabei von einem ins andere kommt, ohne dass man recht weiß, wie man dorthin gelangte. Immer wieder aufs Neue beeindruckend finde ich den ersten Absatz aus Putins Briefkasten. Acht Recherchen, in dem er einfach nur einen gewöhnlichen Postbriefkasten beschreibt. Die Art und Weise, wie er diesen Postbriefkasten jedoch beschreibt und schildert, wie das „ich“ sich auf die Suche nach diesem alten Postbriefkasten begibt, hat jedoch etwas beinahe zauberhaftes an sich:

In einer mir selber nicht ganz klaren Anwandlung bin ich heute morgen fast noch schlaftrunken ins Auto gestiegen und bis an den Stadtrand hinausgefahren, um dort einen bestimmten, ursprünglich maisgelben, mittlerweile aber moosgrünen Postbriefkasten noch einmal zu sehen, dessen Bild mir seit letztem Winter vor Augen steht. Dieser Kasten, erinnere ich mich deutlich, ist neben der Eingangstür zu einem sonst nicht weiter auffälligen Mehrfamilienhaus montiert, und es handelt sich um eines jener unschönen Modelle, wie sie im Westen vorwiegend in den achtziger Jahren überall angebracht wurden, als man klare Formen für unzeitgemäß hielt und abgerundeten Ecken den Vorzug gab, die jedoch die Postkästen nicht eleganter, sondern im Gegenteil noch klobiger wirken ließen.

Und auch die Gedichte Marcel Beyers sind erzählend. Erzählend, aber nicht auf eine Pointe hin erzählend, sondern vor sich hin erzählend, mäandernd, unwillkürlich. Manche Gedichtteile sind für sich genommen abgeschlossene und eigenständige Erzählungen, beispielsweise der vierte Gedichtteil des Gedichts SANSKRIT. Darin geht es um 

Frau Anna Rothe aus Altenburg,
das sächsische Blumenmedium, […]

In den ersten Strophen wird aufgezählt, was Frau Anna Rothe aus Altenburg alles kann: welche Blumenarten sie aus der vierten Dimension holt – Rosen, Scharlachtulpen, Narzissen, Apfelsinen und viele mehr – und dass sie auch große Verstorbene sprechen lässt. Und nicht nur was sie kann wird erzählt, auch, wo ihre Künste aufhören:

[…] Worte vom Mars
oder vom Uranus empfängt sie
leider keine, […]

Die letzten Strophen handeln dann von ihrer Enttarnung, welche schlussendlich zu einer Verurteilung „wegen groben Unfugs und Betrügerei“ und achtzehn Monaten Gefängnis in Moabit führen:

[…]
Zwei unter falschem Namen in
die Sitzung eingeschleuste
Beamte der preußischen Polizei
ziehen ihr gegen heftigen

Widerstand – Schläge, Bisse, ein
zerbrochener Kneifer, NEIN, 
WAR ICH NICHT – an die
einhundertfünfzig  Schnittblumen

sowie mehrere schöne Zitronen
aus dem Unterrock. NEIN, ICH
WAR NICHT DABEI. […]

Das Gedicht erzählt somit eine durchaus spannende Geschichte, unterbrochen nur von den großgeschriebenen Einwürfen eines ICH, das immer wieder beteuert, nicht dabei gewesen zu sein.

Marcel Beyer erzählt jedoch nicht nur im kleinen Rahmen eines Gedichtteils, sondern er nützt auch die Form der zumeist längeren mehrteiligen Gedichte zum Erzählen. Denn ein mehrteiliges Gedicht, worin jeder einzelne Teil mehrere Strophen umfasst, bietet natürlich sehr viel Raum und Zeit um erzählende Elemente zu entfalten. Dabei schöpft Marcel Beyer die Möglichkeiten, den ihm durch die jeweils gewählte Gedichtform  zu Verfügung stehenden Raum zum Erzählen, optimal aus. Dies lässt sich beobachten, vergleicht man oben zitierten Gedichtteil über Frau Anna Rothe aus Altenburg mit dem zwölf Teile umfassenden Gedicht IM POLSTERHIMMEL, denn der Kontrast könnte kaum größer sein. Der einzelne Gedichtteil über Frau Anna Rothe aus dem Gedicht SANSKRIT erzählt fast ihr gesamtes Leben im Schnelldurchlauf – es fehlen nur Informationen über ihre Kindheit, Familie und Todesursache. Das Gedicht IM POLSTERHIMMEL hingegen lässt sich sehr viel Zeit und schlendert ziellos und traumvergessen durch ein Möbelparadies, von Wohnlandschaft zu Wohnlandschaft. Dabei wird zunächst jeder Tageszeit ihre eigenen Möbel, Stoffe und Farben zugeordnet:

III
Der Nachmittag schwankt
zwischen Samt und
grobem Leinen, wenn man
von Möbelstoff und

Müdigkeiten spricht, schwankt
zwischen Aprikosenmark
und Alpenblau. [...]

Spannungselemente tauchen im vierten Gedichtteil auf, wenn es plötzlich um Spurensuche geht, denn vielleicht steht im Stoffmuster eine rätselhafte Schrift, die es zu entziffern gilt? Während noch ein verborgener Sinn im Stoffmuster vermutet wird, taucht schon die nächste Spur auf – dunkles unbekanntes Haar auf dem Sofa, möglicherweise von einem Tier hinterlassen? Und ehe noch irgendetwas enträtselt werden kann, verschiebt sich der Fokus und der Spurensucher wird plötzlich selbst zum Beobachteten, denn möglicherweise versteckt sich irgendwo auch ein Photograph, der warten kann:

[...] etwas rührt sich da – ist

das ein schwacher Luftzug, 
die Belüftung hier, ist 
das der Atem des versteckten
Photographen, der warten

kann, uns nicht aus dem Sucher
verliert? Vermutlich
doch ein Tier mit
schwarzem Fell, [...]

Die rätselhafte Polsterschrift lässt sich zumindest ansatzweise entziffern, Photograph und Tier bleiben jedoch unerkannt und so endet die halbwach begonnene Reise durch den Polsterhimmel unaufgelöst müde in Rätseln:

[...] und ließen uns, müde, auf
einem Rätsel nieder,
einer amorphen Dreiergruppe,
ganz in Zimt.

Den Kniff, durch das Einführen eines möglichen aber ungewiss bleibenden Beobachters/Beobachterin Spannung und Suspense zu erzeugen, findet man auch in Putins Briefkasten. Dort kann man sehen, wie allein durch die Figur einer möglicherweise die ganze Szene beobachtenden unbekannten Frau am Fenster, die eigentlich völlig belanglose Szene – wie jemand eine Häuserzeile entlanggeht – im Rückblick plötzlich an Tiefe gewinnt: 

Während ich mich ein wenig umsehe und mir Notizen mache, werde ich aus einem der oberen Fenster beobachtet, von einer älteren Frau, vermute ich – ich schaue nicht so genau hinauf. Sie hat mir wohl schon zugesehen, wie ich mein Auto auf dem Mieterparkplatz abstellte, ausstieg und durch die Glastür einen Blick ins Treppenhaus warf. Wie ich die Häuserreihe abschritt, neun Aufgänge insgesamt, […] Und wie ich, hinter dem Schirm wild wachsender Birken, Ahorne und Buchen, den sanften Hang wieder hinunter zu meinem Wagen gehe.

Die Gedichte Marcel Beyers sind voll von bekannten Namen, Autoren und Verweisen auf literarische Werke, Filme, Fotographien, historische Ereignisse, etc. Marcel Beyer treibt die Intertextualität und Intermedialität seiner Gedichte aber so weit an die Spitze, dass man fast einen den Gedichtband vom Umfang her weit übertreffenden Bild- und Nachweisteil erwarten würde. Stattdessen übt sich Marcel Beyer diesbezüglich in Rückhaltung. Es gibt einen Nachweisteil, doch dieser umfasst nur einen kleinen Absatz und ist so unglaublich spannend, dass man nur noch neugieriger wird, als man ohnehin schon gewesen war. Denn hier werden nicht nur Autorennamen aufgezählt, die teilweise vorher noch nicht in den Gedichten selbst genannt worden waren, wie Thomas Kling, Volker Braun oder Georg Trakl, Robert Musil und viele mehr. Nein, es wird auch deutlich, wie viele der Gedichte einerseits nach Photographien entstanden sind – Photographien von Alexander von Reiswitz, Werner Lieberknecht, Mäddel Fuchs, Naomi Schenck, u.a. – und wie viele davon andererseits auch für Kompositionen geschrieben wurden– von Christian Muthspiel, Anno Schreier, Enno Poppe und Manos Tsangaris. Am allerschönsten ist sicherlich das Kommentar zum Gedicht Schmieriger, glasiger:

Nach einer telefonischen Bildbeschreibung von Daniel Richter.

Aber solange man auch blättert und blättert – Abbildungen der Photographien oder gar eine beigelegte CD der Musik fehlen gänzlich. Einerseits sehr schade, andererseits aber auch ein starkes Statement für die Eigenständigkeit der Lyrik: auch wenn diese in ihrer Entstehung untrennbar mit einem Bild oder einem Musikstück verbunden war, so hat Marcel Beyer  doch so viel der Bildlichkeit der Photographien und des Rhythmus der Musik in seine Gedichte einfließen lassen, dass die Ausgangswerke am Ende vielleicht ganz redundant geworden sind.

Marcel Beyers Gedichte in GRAPHIT zeichnen sich durch ihre verschlüsselte Sprache und ihren Anspielungsreichtum aus. Dass Fotos, Filme, historische Geschehnisse und literarische Texte anzitiert und in die Gedichte verwoben werden, wurde bereits gesagt. Häufig nennt Marcel Beyer Namen, doch nicht immer hat er das nötig. Dass es im nächsten Zitat um Friedrich Nietzsche geht, ist auch ohne Namensnennung selbstverständlich:

[…] Der 
blanke Irrsinn – jetzt sterben
schon die Pferde, man weiß

bald nicht mehr, wen man noch
umarmen soll. Da hast du 
sie, deine beschissene Natur. […]

Aber dieses Beispiel ist noch nicht unbedingt, was ich mit „verschlüsselter Sprache“ meine. Verschlüsselt sind jene Verweise, welche sehr bewusst versteckt wurden und bei denen man das Gefühl hat, dass Marcel Beyer sich jedes Mal verschmitzt darüber freut, wenn man den Verweis wieder einmal überlesen hat. So war es mir bei dem mehrteiligen Gedicht DIE GRILLMEISTERIN gegangen. Ein recht seltsam anmutendes Gedicht, zu dem ich lange keinen Zugang fand. Und nein, auf die Idee, dieses Gedicht ausgerechnet mit Friederike Mayröcker in Verbindung zu bringen, wäre ich nie gekommen. Wäre ich nie gekommen, wenn ich nicht Marcel Beyers Vortrag über Friederike Mayröcker im Dezember letzten Jahres, kurz vor ihrem 90. Geburtstag gehört hätte. Manchmal ist es also durchaus von Vorteil, wenn man sehr lange an einer Rezension schreibt. 

Vielleicht zunächst einmal den dritten Teil des Gedichts, um zu zeigen, wie denkbar weit weg von Friederike Mayröcker dieses Gedicht scheinbar ist:

III
Aber paß auf – eine Grillmeisterin
ist viel allein. Sie zeigt
dir Tricks – wie leicht
Geflügelknochen brechen.

Und dann erzählt sie – Zange, 
Messer, messerscharf,
erzählt dir die Geschichte
vom gebratenen Mann.

Und jetzt die Auflösung, die Stelle, in der Marcel Beyer verrät, dass es um Friederike Mayröcker geht: 

[…] 
Sie winkt noch mal – sie will
mit dir von Tränen sprechen.

Dass dabei Friederike Mayröcker „anzitiert“ wird, verrät Marcel Beyer nicht im Gedichtband. Einen Hinweis, darauf, dass hier zitiert wird, findet sich allerdings schon im Gedicht, im vorletzten Gedichtteil:

[…] 
Du aber wirst – wirst hier
am Ende nur ganz leise anzitiert.

Dieses „leise Anzitieren“ am  Ende kann man auf die vorhergehende Tränen-Stelle im zweiten Gedichtteil beziehen. Denn Marcel Beyer zitiert hier nicht offensichtlich und ausdrücklich, sondern zitiert viel mehr jemanden sehr leise, vorsichtig, mit allergrößter Behutsamkeit an. Er zitiert eine Dichterin an, die ihm sehr wichtig ist, die und deren Werk er gut kennt, sehr schätzt und mit der er auch befreundet ist: keine geringere, als Friederike Mayöcker. 

Was das Sprechen über Tränen mit Friederike Mayröcker zu tun hat, verrät er an anderer Stelle, in einem Vortrag über Friederike Mayröcker. Der wunderschöne Tränen-Vortrag über Friederike Mayröcker, den Marcel Beyer am 17.12.2014, kurz vor ihrem 90. Geburtstag, in der Alten Schmiede in Wien gehalten hatte (nachzulesen auf: logbuch-suhrkamp) beginnt mit folgendem Satz:

Eines Tages – es muß 2008 oder Anfang 2009 gewesen sein – erhalte ich einen Brief von Friederike Mayröcker, der aus einem einzigen Satz, einer einzigen Frage besteht: »›wollen Sie mit mir über Tränen sprechen?‹ (Jacques Derrida)«.

Und nicht nur, dass der Vortrag mit dieser Frage Friederike Mayröckers an Marcel Beyer als Zitat beginnt, er endet auch wieder mit der gleichen Frage:

Heute, am 6. Dezember 2014, während ich diese Sätze schreibe, erhalte ich einen Brief von Friederike Mayröcker, und er beginnt mit der Frage: »›WOLLEN SIE MIT MIR ÜBER TRÄNEN SPRECHEN?‹«  

Diese eine Frage bildet also den roten Faden, um den der gesamte Vortrag herum aufgebaut ist. Indem Marcel Beyer das Briefzitat von Friederike Mayröcker aufgreift und in sein Gedicht einwebt, antwortet er ihr, greift ihre Einladung zu einem Tränen-Dialog auf. Ein Dialog der, wie es sich für Friederike Mayröcker, einer der größten Dichterinnen überhaupt, gebührt, nicht in Form eines Gesprächs ausgetragen wird, sondern eingewoben und verwoben in Literatur.

Und Marcel Beyer spricht in seinem Vortrag sogar über einen Dichterdialog dieser Art, zwischen Ernst Jandl und Friederike Mayröcker. Er zeigt auf, wie sie gleichermaßen Zitate voneinander aufgegriffen und leicht verändert haben und so über Jahre und selbst über den Tod Ernst Jandls hinweg einen Dialog, ausgetragen in der Literatur, führten. Auch Marcel Beyer zitiert in seinem Gedicht nicht einfach Friederike Mayröcker, sondern er verändert ihr Zitat und antwortet ihr somit. Aus der Frage wird eine Tatsache. Eine Tatsache, die, wie wenn sie vom „ich“ noch nicht ganz geglaubt werden kann, ungläubig vor sich gemurmelt zu werden scheint: „Sie will mit dir von Tränen sprechen.“ Dabei sehe ich Marcel Beyer, wie er einen Schritt zurück tritt, sich leicht bückt, um Friederike Mayröcker, die gerade in das Taxi gestiegen ist um nach der Lesung nach Hause in die Zentagasse zu fahren und aus dem Fenster herauswinkt, noch einmal nachzuwinken. „Sie will mit dir von Tränen sprechen.“ Die ursprünglichen Worte der Frage: „wollen Sie mit mir über Tränen sprechen.“ werden scheinbar nur wiederholt, doch aus einem anderen Standpunkt heraus, dem Standpunkt des Gegenübers. Aus dem „Sie“ (Marcel Beyer) der Frage, wird ein weibliches „sie“ (Friederike Mayröcker). Ebenso wird aus „mit mir“ – „mit dir“. Das Thema des Gesprächs sind Tränen, doch ob nun „über“ oder „von“ Tränen gesprochen wird, bleibt offen. Auch bin ich mir im Unklaren, worin der genaue Unterschied zwischen einem Sprechen „über Tränen“ und einem Sprechen „von Tränen“ liegt. Um diesen feinen Unterschied auszumachen, wird es wohl nötig sein, weiter zuzuhören und auf eine mögliche Antwort Friederike Mayröckers zu lauschen.

Marcel Beyer
GRAPHIT
Gedichte
Suhrkamp
2014 · 207 Seiten · 21,95 Euro
ISBN:
978-3-518-42440-7

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