"Vorgeburtlich"
Im nun rasch anschwellenden Erzählfluss hat das Kind bereits sechs Jahre seines Lebens überlebt.
Dürfen wir uns, wenn wir solche Sätze lesen, schon an die österreichischen Siebziger Jahre erinnert fühlen? Also: Insofern wir es hier mit Sprache zu tun haben, deren stil- und strukturbildendes Lieblingsprinzip der Kippeffekt zwischen Inhalt und Selbstbezug ist, z. B. zur Vermittlung zwischen einer Innen- und einer Außenwahrnehmung? Das heißt: mit Sprache, der unter der Hand dasjenige, was in einem ersten Satz als poietisches-metaphorisches Annähern durchgeht, zum trocken beschreibbaren Gehalt im Folgesatz gerät … Texte mit solchen Verfahrensweisen umfassen dann naturgemäß einerseits jemandes Alltagsrede, andererseits die (Zweck-)Entfremdung derselben. Das vermutete man, siehe oben, in den Siebzigern, mal als das spezifisch Österreichische in der damaligen deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. In jenem Kontext verdankte sich diese Art der Sprachreflexivität eher einer Nähe von Literatur und, sagen wir, Kabarett (dh: Unterhaltungsbühne), aber:
(a) Sie war tendenziell ideologiekritisch im weiteren Sinn, weil ihr das Dekonstruieren von "Erhabenem", empathisch "Echtem" usw. nahe lag. Damit war sie notwendigerweise auch
(b) feministisch, insofern es beim realen Patriarchat um Körperliches, Alltägliches, um Familienkram, um personale Abhängigkeiten und das Verstummen der Abhängigen geht (… wir sind hier also in der historischen Domäne eines westlichen Nachkriegsfeminismus, wie er derzeit, 2010er, überraschenderweise wieder verteidigt werden zu müssen scheint). Das hieß weiters, solche Sprachreflexivität produzierte
(c) explizit artifizielle Texte, weil, einfach gesagt, "so niemand redet" (bzw. "natürliche Rede" zugleich der Wohnort des zu Denunzierenden war); Texte aber auch, die zugleich
(d) stets tendenziell anti-theoretisch waren, weil sie notwendigerweise auf die Matrix eines Unvermittelten / Körperlichen zurückverweisen mussten.
Alles das trifft auch auf diesen kunstsprachlichen Roman "Fehlversuche" von Elke Heinemann zu, der eine verkorkste Kindheit behandelt, vom oben zitierten ersten Satz des fünften Absatzes bis zu diesem Schluss:
Das Kind, das kein Kind mehr ist, sitzt im Sterbezimmer der Mutter, alles ist ruhig, alles ist gut, nach einer Weile steht es auf, öffnet die Tür, tritt hinaus ins Licht, verwandelt sich, sagt dann leise:
Ich.
Wir können daran insbesondere die kritische Leichtigkeit gut finden, oder sagen wir die Klarheit des SprecherInnenstandpunkts. Der Klappentext dagegen, wenn er das allzu große, allzu funktionale Wort "Resilienz" bemüht, mit einem Hashtag vorndran no less, steht dem Aufkommen dieser Leichtigkeit höchstens im Wege. Dieses Buch ist genau nicht therapeutisch, also: es ist weder therapeutisch, noch theoretisch.
Was "Fehlversuche" ist, ist eine Überraschung. Unabhängig von den Spezifika der Handlung von Kind-versus-Milieu bietet uns Elke Heinemann einen Anlass, darüber nachzudenken, ob wir es da mit einem literarischen Ausweis der Wiederkehr überwunden geglaubter gesellschaftlicher Zustände – nein: überwunden geglaubter gesellschaftlicher Sprachen über Zustände – zu tun haben (über die dann angemessener Weise in einer Fortschreibung der historisch korrekt beizuordnenden literarischen Form zu reden wäre), oder mit einer (sagen wir ohne bösen Willen:) Formstudie.
Lustig jedenfalls ist dieses "Fehlversuche", obwohl es überhaupt nicht lustig ist, durchaus. Hier z. B.:
Kurz vor meinem vierzigsten Geburtstag überlebe ich den Tod des Vaters. Der Vater stürzt sich nicht in einen tosenden Mahlstrom, ein erster Blick in die Tiefe und ein zweiter Blick in einen ledergebundenen Buchclub-Klassiker mit dem Namenszug "Schiller" halten ihn davon ab:
Wohl manches Fahrzeug, vom Strudel erfaßt,
schoß jäh in die Tiefe hinab,
Doch zerschmettert nur rangen sich Kiel und Mast
hervor aus dem alles verschlingenden Grab. -Der Vater taucht nicht ein in den Tiefen der Tiefsee, der Vater stirbt einen plötzlichen Herztod, obwohl er wenige Tage vor dem plötzlichen Herztod sagt, er habe kein Herz, (…)
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Kommentare
Elke Heinemann: Vorgeburtlich
Hätte Stefan Schmitzer seine ersten sieben Absätze nicht einfach weglassen können? Ich kenne nur den Hörbuchteil, leider, und ich halte das Buch für sehr gut und empfehlenswert. Sprachlich ist es eine Glanzleistung, will sagen, es macht Freude, so frische Sprache auch als Nichtösterreicher der siebziger Jahre zu lesen, die wunderbar mit dem Inhalt korrespondiert, den ich leider nur soweit kenne, wie es das Hörbuch zulässt. Würde ich lediglich Schmitzers Geschwurbel, das ihm sicher sehr gefällt, lesen (ohne einen Blick in das Buch selbst zu werfen), bin ich nicht sicher, ob ich, könnte ich denn noch meiner Augen wegen vernünftig lesen, es aus dem Regal beim Buchhändler ziehen würde, was ein Fehler wäre. Es ist ein tolles Buch!
lieber wolfgang mann,
(komisch, in der dritten person angesprochen zu sein und dh ebenso antworten zu sollen – fühlt man sich gleich so zäh-sah-risch … lass ichs bleiben …)
lieber wolfgang mann,
schön, dass wir uns darauf einigen können, dass diese "fehlversuche" ein lesenswertes buch sind. aber: sich bloß hinzustellen und zu loben – vielleicht sogar unter verwendung der von ihnen angebotenen formulierungen von der "glanzleistung" und der "frische[n] sprache, die mit dem inhalt korrespondiert" –, aber darüber hinaus weder kritik, noch kontext, noch stilistische einordnung anzubieten (wobei über die gewichtung und das zutreffen dieser zusätze dann natürlich diskutiert werden muß): das ist das handwerk der PR-menschen und werbetexter, nicht meins.
ich könnte natürlich dazu übergehen, "x von 10 sternchen" unter meine rezensionen zu schreiben, um dem geneigten leser das "geschwurbel" zu ersparen – aber mal ehrlich: wollen sie das?
freundlich schwurbelt
stefan schmitzer
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