Dekarnation
bis dein körper
kein körper mehr ist
Schon nach wenigen Seiten aus dem Band dekarnation von Eva Maria Leuenberger wird ersichtlich, dass man es hier mit einem ganz außergewöhnlichen Gedichtband und einer ebensolchen Dichterin zu tun hat. „tal, moor, schlucht, tal“ lauten die vier Abschnitte in welche der Band unterteilt ist. Im ersten „tal“ erwacht ein Ich am Rande des Baches in völliger Abgeschiedenheit und hört das Wasser, welches uns durch diesen ganzen Abschnitt und das titelgebende Tal führen wird. Besonders ist, dass wir es hier mit Einzelgedichten zu tun haben, die für sich stehen könnten, das aber nicht tun sondern in ihrem Weiterströmen und der Weiterbewegung zu einem einzigen Langgedicht werden, in dem ein Wort zum anderen führt wie ein Gedicht zum nächsten. Die Richtung ist dabei vorgegeben wie die Fließrichtung eines Flusses. Dass ein Gedicht zum nächsten führt oder jedes Gedicht aus dem vorhergehenden hervorgeht merkt man daran, dass keines der Gedichte mit einem anderen Platz tauschen könnte.
in diesem tal
lebt niemand mehr und niemand
kennt den weg:
ich wache auf
am rande des baches
und höre das wasser
In der Malerei spricht man vom „gelenkten Blick“, wenn beispielsweise Lichteinfall oder ein opulenter Vorhang unseren Blick im Betrachten in eine bestimmte Bildecke lenkt oder leitet. Eva Maria Leuenberger macht das mit Sprache und gibt sich damit trotz ihrer erst 28 Jahre als „alte Meisterin“ ihres Faches zu erkennen. Besonders schön kann man den gelenkten Blick anhand der ersten Gedichte im Band zeigen, in welchen Blick und Wahrnehmung langsam und schrittweise weg vom Ich in die Ferne wandern. Zunächst, im zweiten Gedicht, richtet sich der Blick, bzw. unsere Wahrnehmung nach unten:
am bachufer, die decke aus moos
ich spüre den boden
wie er nachgibt unter mir
Und dann immer weiter in die Ferne, also einmal hinter das Wasser:
hinter dem wasser
die anfänge von licht
splitternd, gehüllt ineinander
wie arme, schlingend
Und im darauf folgenden Gedicht auf die andere Seite des Wassers:
auf der anderen seite
des wassers
sitzt ein vogel, gefiedert,
Im nächsten Gedicht setzt sich das Ich dann selbst in Bewegung, verlässt Bach und Moos, durchquert das Tal und hält sich dabei an den Wind. Einmal in Bewegung gesetzt bleiben wir das auch und werden so lesend durch das Tal und zugleich von einem Gedicht zum nächsten geführt. Geleitet werden wir dabei von der eigenen Neugier, aber auch von einem uns voranfliegenden Vogel, dem wir folgen bis er schließlich ganz davonfliegt. Den davonfliegenden Vogel könnte man als davonfliegende Hoffnung verstehen, weil dem Zyklus ein Zitat von Emily Dickinson vorangestellt ist, in welchem sie Hoffnung als gefiedertes Ding beschreibt. Oder auch nicht, folgt diesem Zitat doch ein weiteres von Claudia Rankine, in dem sie sich auf ebendieses Zitat von Emily Dickinson bezieht, es infrage stellt und meint, dass Hoffnung vielleicht nie ein Ding mit Federn gewesen sei und sie selbst immer umschalten würde, sobald Nachrichten kommen.
Das Setting eines auf sich selbst zurückgeworfenen Ichs in einer menschenleeren Landschaft, ohne dass wir die Hintergründe dafür kennen, hat etwas Existenzbedrohendes und Unheimliches an sich, lässt beispielsweise an Die Wand von Marlen Haushofer denken. Verstärkt wird diese Einsamkeit noch zusätzlich durch die Anwesenheit zweier Tiere, dem Vogel und einem hinter Bäumen verborgenen Reh. In dieser völligen Abgeschiedenheit richtet sich die Aufmerksamkeit wie selbstverständlich auf die eigene Körperwahrnehmung. Einerseits um Halt und Trost zu finden – ich bin noch da, es gibt mich noch -, andererseits im Erkennen der eigenen Verletzlichkeit und Vergänglichkeit:
die birken reißen auf an der haut
das schwarze fleisch ist trocken
wie immer, und wie immer
erwarte ich blut
du bist nur rinde, denke ich
und berühre meinen arm
Diese Stelle ist auch insofern interessant, als hier die Rinde eines Baumes als Haut und Fleisch eines Lebewesens, das bluten könnte, beschrieben wird und die letzten beiden Zeilen dieses Gedichts offen lassen, ob das Ich zum Baum sagt: „du bist nur rinde“ und den eigenen Arm berührt, oder ob es das zu sich selbst sagt und sich damit als Baum empfindet. Metamorphosen von Mensch zu Baum gibt es in der Mythologie einige. Philemon und Baucis verwandeln sich beispielsweise bei Ovid in zwei ineinander verschlungene Bäume. Oder auch, hier wegen der großen Einsamkeit wohl naheliegender, Daphne, die vor Apoll flieht und sich in genau dem Augenblick, in welchem er sie einholt, in einen Baum verwandelt. Man denke hier an die Skulptur von Gian Lorenzo Bernini, die diesen Moment einfängt, wie man es nicht besser könnte: Die glatte ebenmäßige Haut der Nymphe, die zur rissigen Baumrinde wird und ihre nach oben gereckten Finger, aus denen schon die ersten Blätter sprießen.
Bleiben wir kurz stehen, schließen wir die Augen und lauschen wir aufmerksam in die uns umgebende Stille hinein, so hören wir in diesem Abschnitt neben dem Rauschen des Baches und dem kurz singenden Vogel noch etwas anderes: Das mit sich selbst oder mit der Natur sprechende Ich, das vielleicht aber auch nur still vor sich hin denkt. Und dann redet da noch jemand anderer lautlos aber doch hörbar in all dieser Stille und Einsamkeit rundum: „nur die toten / reden noch“ – Das sind die letzten beiden Zeilen des ersten Abschnitts und sie sind zugleich die Überleitung in den zweiten Abschnitt „moor“.
Im ersten Gedicht dieses Abschnitts begegnen wir einem „mann tollund“ und einer „frau elling“ und die Erleichterung, in dieser Menschenleere nun doch auf andere Menschen getroffen zu sein, weicht sofort der Erkenntnis, dass wir es hier mit keinen Lebenden, sondern mit zwei toten Moorleichen zu tun haben. Im nächsten Gedicht steht das Ich dann am Wasser und blickt hinab auf darin treibenden Leichen, die vom Fluss in den See getrieben werden. Das Ich ist somit umgeben von Leichen und abgesehen davon immer noch alleine. Die in diesem Abschnitt häufig auftauchende Formulierung „man sagt“, mit der das Ich wiedergibt, was andere gesagt haben, weist aus der aktuellen Situation hinaus. Vorausgesetzt, man ist optimistisch genug und fasst dieses „man sagt“ als Hoffnungsschimmer auf, dass es anderswo noch andere Menschen gibt oder in der Vergangenheit zumindest gab. Sieht man die Sache ganz hoffnungslos, so kann man dieses „man sagt“ allerdings auch auf die sprechenden Toten beziehen, hieß es doch in „tal“: „nur die toten reden weiter“.
Im Wasser verschwimmen die Konturen von Körpern und im Wasser löst sich alles allmählich auf. Auch im Nebel verschwimmen alle Grenzen, selbst die zwischen Leben und Tod, wie das auch in den Gedichten passiert, in welchen eine schlafende Moorleiche jederzeit aufwachen, sich erheben und zur anderen Moorleiche laufen könnte:
der mann tollund, der körper zerbröckelnd
und zart, wird über das moor laufen
neunzig meter nach links, in einer wolke
aus staub
Es folgt der dritte Abschnitt „schlucht“. Hier sind die Gedichte anders gesetzt, in einer Mittelkolonne durch die sich eine weiße Schlucht oder ein wortloser Fluss schlängelt. Inhaltlich stellt dieser Abschnitt aber keinen völligen Bruch zu den vorhergehenden dar. Obwohl einige neue Elemente hinzu kommen überwiegt doch der Eindruck des Weiterführens und Weiterdenkens von bereits Vorhandenem. Ein Beispiel hierfür sei die erneute Engführung von menschlicher Haut mit Baumrinde:
stell dir vor
die haut fällt von dir ab
wie die rinde
einer anderen zeit
An diesem Punkt lohnt es sich, das Lesen kurz zu unterbrechen und stattdessen das Buch einfach zu betrachten, beispielsweise diese Seite hier:
Wenn wir weiterblättern sehen wir, dass die Mittelkolone mit den vor der leeren Mitte nach rechts und links ausweichenden Worten noch eine Weile Bestand hat, dann aber auch immer mehr zersetzt wird. Rein optisch bekommen wir im Betrachten das Gefühl von Strömung und Bewegung vermittelt und werden Zeugen, wie das Wasser den Gedichten selbst zunehmend zusetzt, bis sie vom Wasser zersetzt werden wie verwesende Körper. Während wir es in den ersten beiden Abschnitten „tal“ und „moor“ noch mit gut erhaltenen und äußerlich intakt gebliebenen Moor-Gedicht-Leichen zu tun haben, haben wir es in den darauf folgenden beiden Abschnitten „schlucht“ und „tal“ mit Wasser-Gedicht-Leichen zu tun, von welchen durch Dekarnation („Entfleischung“) nach und nach alle Weichteilen abgelöst werden, bis nur mehr die weißgewaschenen Knochen übrig bleiben.
Hat man das einmal verstanden, ist auch klar, warum dieser Band unter den 30 Nominierten für die Hotlist 2019 gelandet ist. Ob er weiter gekommen ist, erfahren wir Anfang September. Aber in jedem Fall hätte dieser Band den Preis verdient wie kaum ein zweiter. Denn ein derartiges ineinander-Übergreifen von Form und Inhalt / Inhalt und Form begegnet einem selten.
Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten der Dekarnation, nicht nur Wasser, auch Tiere können das bewerkstelligen. Aasgeier oder Hyänen beispielsweise ernähren sich von Tierkadavern und lassen nur die Knochen übrig. Und es gab und gibt teilweise auch heute noch Bestattungsriten, in denen Verstorbene den Vögeln zum Verzehr überlassen werden. Damit bekommt der Vogel im ersten Abschnitt nochmals eine ganz andere Bedeutung. An einer Stelle in den Gedichten sind es aber keine Vögel, sondern Hunde, die im Traum den Körper des Ichs zerlegen:
in der nacht
träumst du von hunden
die deinen körper stück für stück
auseinandernehmen jeder hund
in eine richtung mit dem knochen
im mund
bis dein körper
kein körper mehr ist
Der Blick richtet sich in diesem Abschnitt noch konzentrierter auf den eigenen Körper, der so genau betrachtet wird, als stünden wir vor einem Spiegel, oder dem von außen zugesehen wird, wie er sich bewegt als wäre es ein fremder Körper. Es wird auch etwas lauter, da „das bild / knistert“ und ein Chor, ein schreiendes Kind und eine Mutter auftauchen und hier besonders viele Fremdzitate verwendet werden. Eva Maria Leuenberger schreibt ihre Gedichte auf Deutsch, die kursiv gesetzten Zitate, welche sie den einzelnen Abschnitten voranstellt oder in die Gedichte flicht sind aber durchwegs auf Englisch. Dieser Sprachenwechsel erweckt auch den Eindruck, als wären hier mehrere unterschiedliche Stimmen zu vernehmen.
Sehr eindrücklich schließt dann dieser Abschnitt, wenn die Perspektive einer im Wasser treibenden Leiche eingenommen wird:
du spürst den sog des wassers
und greifst nach einer hand
sie ist warm und glatt
du schaust sie an, uns siehst
deine eigene hand
der nebel zieht über dich
du hältst deine hand
und sinkst
Aber hier ist nicht das Ende, gibt es da doch noch das vierte und letzte Kapitel, welches wie schon das erste „tal“ übertitelt ist. Und nun wird es mit einem Schlag wieder ruhiger, die Stimmen flüstern und „die tage versinken in zeit“ während das Wort im Echo versickert und Stille auftaut:
stille taut auf und wasser:
tropft die worte weich
Der Gedichtband klingt vergleichsweise sacht aus und die Worte tröpfeln und versickern allmählich. Betrachtet man das dunkelschwarze Cover, auf welchem ein möglicherweise im Wasser treibendes Skelett einer Schlange zu sehen ist, und denkt man an die ebenso düstere Thematik der Dekarnation, so mag der positiv leichte, nahezu optimistische Ausklang des Gedichtbandes überraschen. Denn die Gedichte selbst lösen sich auf in Luft und Licht, das in die Nacht fällt. Am Schluss stehen nur mehr einige wenige Worte auf jeder Seite. Durch diesen vielen Freiraum hat der Gedichtband auf diesen Seiten gleichsam Raum und Zeit, nochmals in uns nachzuhallen und nachzuklingen. Und hier kann man wieder vom „gelenkten Blick“ sprechen. Denn nun sind es die wenigen Worte, jeweils nur eine Zeile pro Seite, die durch ihre Anordnung unseren Blick lenken und leiten. Zuerst aufwärts in einem Aufsteigen, wenn es um die Luft geht. Worauf dann ein Herabsinken folgt, welches das in die Nacht fallende Licht begleitet.
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