Geraubte Erinnerung
„Ich bin, ich denke, ich erinnere mich“, sagte Augustinus, und wusste, dass er eine Seele habe. Aber was ist, wenn die materiellen, kulturellen Güter in unvorstellbarer Anzahl, wie von Zikadenschwärmen vertilgt, verschwunden sind? Wenn es keine Anknüpfungspunkte mehr für die Erinnerung gibt? Was geschieht dann mit der Seele?
Aktuell werden in den staatlichen Sammlungen Frankreichs mindestens 88 000 Objekte von dem afrikanischen Kontinent südlich der Sahara aufbewahrt. Fast 70 000 allein im Pariser Musée du quai Branly; mindestens 18 000, wahrscheinlich deutlich mehr, in den Museen mehrerer Hafenstädte (…).
Geraubt während der militärischen Eroberungen afrikanischer Reiche und Gebiete, also der Kolonialeroberung bis 1914 und von Missionaren und Kolonialbeamten während der Phase der etablierten Kolonialherrschaft bis 1960„entnommen“. Dazu gehört auch die Ausbeute „wissenschaftlicher“ Expeditionen, die in einigen Fällen tatsächlich Raubzügen glichen.
Diese signifikante Zunahme erklärt sich vor allem durch die Ausweitung der ethnografischen Expeditionen Ende der 1920er Jahre: Allein in den zehn Jahren von 1928 bis 1938 fanden mehr als „20 000 Objekte auf diese Weise Eingang in die Verzeichnisse.
Gestützt auf ihre geradezu kriminalistisch geführten, ungemein gründlichen Recherchen konnten die 1972 in Paris geborene Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und der gleich alte Senegalese Felwine Sarr, Schriftsteller, Musiker und Professor für Wirtschaftswissenschaften im November 2018 dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron ihren „Bericht zur Restitution des afrikanischen Kulturerbes“ übergeben, dessen gekürzte und von Daniel Fastner sehr gut lesbar übersetzte Fassung das vorliegende, schön gestaltete TB des Matthes & Seitz-Verlages darstellt.
Obwohl im Schatten des Holocaust liegend, wenn man es so sagen kann, sind die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sind die zahlreichen Fälle von Genozid, beispielsweise des Deutschen Reiches an den Herero Südwestafrikas und Belgiens an Millionen Menschen im Kongo, in jüngster Zeit wieder ins Bewusstsein einer kritischen Öffentlichkeit getreten.
Um der bis heute anhaltenden, destruktiven Wirkung einer barbarischen Geschichte etwas entgegenzusetzen und einen Neuanfang der französisch- und darüber hinaus europäisch-afrikanischen Beziehungen zu setzen, ist es geboten, den Ländern südlich der Sahara ihre Kunst- und Ritualgegenstände zurückzugeben. Es stockt einem der Atem zu lesen,
dass fast die Gesamtheit des materiellen Erbes der afrikanischen Länder südlich der Sahara außerhalb des afrikanischen Kontinents aufbewahrt wird.
Wenn, wie im Buche dokumentiert, das Vorhaben des Präsidenten Macron, das auf vielfältige Weise unrechtmäßig in die öffentlichen Sammlungen Frankreichs gekommene Kulturgut in Gänze in die Herkunftsgebiete zurückzugeben, verwirklicht wird, wäre es eine staunenswerte, neuartige und auf humanistischem Denken beruhende Politik, die sicher ein Tor zu Wegen öffnete, viele Probleme, nicht zuletzt das der Fluchtbewegungen und ihrer desaströsen Begleiterscheinungen auf den afrikanischen und europäischen Wegen (durch das Mittelmeer), anzugehen. Die Autoren betonen, dass vor allem der afrikanischen Jugend, 60 % der Bevölkerung Afrikas sind unter 20 Jahren alt, Zugang zu ihrer eigenen Kultur, zu der Kreativität und Spiritualität vergangener Epochen geschaffen werden müsse, damit eine Stärkung der Identität der Individuen und Gesellschaften folgen könne. Im Falle Frankreichs, aber sicher auch für andere europäische Länder, gilt, dass eine Weiterentwicklung des Rechtsrahmens, im Falle Frankreichs durch die Verabschiedung eines Sondergesetzes zur Restitution von Kulturgütern oder durch die Modifikation des Kulturerbegesetzbuchs (code du patrimonie) die Möglichkeit konfliktfreier Zurückgabe eröffnen müsste.
In besonderer Weise berühren menschliche Überreste, die vollkommen verdinglicht und offenbar ohne jede Emotion bis in die Gegenwart hinein schamlos den Augen der Ausstellungsbesucher dargeboten werden. So liest man von dem staatlich beauftragten Agrarwisschaftler Jean Dybowski 1856-1928, dass er siebentausend Einzelstücke auf dem Gebiet der heutigen Zentralafrikanischen Republik sammelte und auf die französischen Museen verteilte.
Bei der Ausstellung von 1893 im Museum d’histoire naturelle zeigte die progammatische erste Vitrine „Kleidung und Gegenstände, gefunden an Männern, die in der Nacht vom 22. auf den 23. November 1891 getötet wurden (…) sowie drei ihrer Schädel.“
Aber Frankreich ist beileibe nicht der einzige Ort, an dem man sich aus Schau-und Zeigelust über Pietät und Achtung der Totenruhe hinwegsetzt. Vom 29.04 2016 bis zum 28.05.2017, also über 100 Jahre nach der angesprochenen Pariser Ausstellung veranstaltete das Museum der Kulturen, Basel, unter der Leitung von Frau Dr. Anna Schmid die Ausstellung „In der Reihe tanzen“, die in Assemblagen die Vielfalt in der Gestaltung gleichartiger Gegenstände zeigen wollte. Ein großer Raum wurde einzig mit einer großen Menge Totenschädel aus Sri Lanka gefüllt, die von dem Sammler einst klandestin auf Friedhöfen ausgegraben und gestohlen worden waren, indem ein pervertiertes quasiwissenschaftliches Interesse behauptet wurde.
Die menschlichen Schädel wurden überwiegend schlicht nach ästhetischen Kriterien wie die übrigen Gegenstände angeordnet, ein aufklärerisches ethnologisches Konzept war nicht zu erkennen.
In der Bundesrepublik fehlt eine derartig tiefgehend recherchierte Arbeit wie die besprochene. Auch die deutschen ethnologischen und kunsthistorischen Sammlungen sind reich an „Beutekunst“, genannt seien die vor Ort in Turkestan aus den Wänden gesägten buddhistischen Malereien aus Tempelhöhlen entlang der Seidenstraße, die sich im Berliner Museum für indische Kunst befinden und wohl bald im Humboldtschloss zu sehen sein werden oder das Haupt der Nofretete, dessen Zurückgabe an Ägypten seit Langem gefordert wurde. Im Falle der Wandmalereien handelt es sich um Artefakte aus dem Lebensgebiet der Uiguren, die kaum ihr Einverständnis für die rücksichtslose Ausbeutung ihrer kulturellen Stätten gegeben haben dürften.
Angefügt an die Recherchen im Bericht für den Präsidenten finden sich genaue Überlegungen zu den Vorarbeiten einer umfassenden Restitution auch in den Zielländern sowie planerische Operationalisierungen des weiteren Vorgehens in Frankreich. Zudem werden dreizehn der umgehend zurückzugebenden Objekte mit Abbild und genauer Beschreibung vorgestellt.
Die Arbeit von Feline Sarr und Bénédicte Savoy sensibilisiert den Betrachter in der Aura des Museums dafür, sich für Gewaltverhältnisse hinter der beglückenden Schönheit der Exponate zu interessieren und das oftmals so gut verschleierte Unrecht hinter dem Schönen zu erspüren.
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