Strategie: schräg
Seit geraumer Zeit veröffentlicht Matthes & Seitz einige gewichtige Veröffentlichungen zur chinesischen Weltanschauung. Darunter nicht nur Klassiker wie Menzius etc. in Lesebuch-artiger Vorstellung, sondern auch allgemeine Betrachtungen und Gegenüberstellungen. Der französische Sinologe François Jullien ist nach Landschaftsauffassungsessays mit einem weiteren Band vertreten, mit dem etwas esoterisch anmutenden Titel Vom Sein zum Leben. Jullien stellt es selbst wie folgt vor:
Ich glaube nicht, dass man vom Westen her das chinesische Denken direkt oder frontal "vorstellen", es resümieren, einen Gesamtüberblick bzw. ein handliches Digest davon verfassen oder gar seine Geschichte schreiben kann. Man bleibt unvermeidlich und ohne es zu bemerken, von den implizierten Entscheidungen seiner eigenen Sprache und seines Denkens abhängig und würde letztlich stets bloß ein Faksimile dessen vorfinden, was man bereits gedacht hat, mit mehr oder weniger großen Abweichungen [...]
In der Tat gelingt es Jullien, in sehr interessanten Gegensatzpaaren, die er als Artikel dieses "Lexikons" erläutert, die gegenseitigen Aporien im Denken und den Schwierigkeiten, um nicht zu sagen Unmöglichkeiten im gedanklichen Transfer sprachlich aufzuarbeiten. Es sind daher auch weniger Gegenüberstellungen als Verschiebungen (relativ) naher Topoi, die er vornimmt wie z.B. "Reifung (vs. Modellierung)" oder "Ambigue (vs. Äquivok)". Und es ist eigentlich auch kein Lexikon, sondern eine Progression. Es ist nicht möglich, sich hier Themen oder Artikel gesondert herauszugreifen. Man muss das Werk im Ganzen und konsekutiv lesen, um die Ausgangs- und Endlage jeweils zu erfassen. Leider erlaubt sich Jullien auch ein wenig "Académie-Redundanz", das mitunter weder zum einen noch zum anderen Thema passt und schlicht hereingedrängt wirkt, wie auch das 50-seitige selbstverfasste Nachwort ein Zuviel ist, und wenn man ganz ehrlich ist, kommt das ganze Buch auch in all seiner Ausführlichkeit nicht über die oben zitierte Knappstzusammenfassung Julliens hinaus, die auch nicht unbedingt neu ist. Dennoch lohnt sich das Unterfangen. Es ist schlicht kompositorisch interessant, hierbei vor allem sprachlich, etymologisch, den kenntnisreichen Ausführungen zu folgen. Zudem scheint das generative Element der Geisteswelten tatsächlich derart voneinander entfernt, dass man mitunter detailliert ins Staunen kommt.
Man könnte zusammenfassend sagen, dass das chinesische Denken gar nicht zu erhellen versuchte, was das westliche Denken für sich als unergründlich entdeckt hat (das für uns Unergründliche, wird Kant sagen). Das chinesische Denken kennt das Schwindelgefühl nicht. Bringt es uns deshalb zur Verzweiflung? Jedenfalls beeindruckt es uns durch seine Kohärenz, hat es doch im Gegenzug – durch die dem Prozess geltende Aufmerksamkeit – zu erhellen verstanden, wie das Phänomen der Neigung im Bezug auf das Verhalten in diese oder jene Richtung gehemmt oder gefördert werden kann. Statt die faszinierende, aber ungelöste (weil unlösbare) Frage der Möglichkeit, (das Böse) zu wollen, aufzuwerfen, offeriert es uns eine sorgfältige Analyse der Konditionierungseffekte.
Scheinbar typische Grundzüge finden sich ebenso in den Artikeln wieder, wie...:
Es wird empfohlen – und zwar quer durch alle Denkschulen, im Vertrauen in die eingeschlagene Neigungsrichtung und in "weiser" Einwilligung zu diesem Aufgeschobenen – die Wirkung kommen zu lassen, statt die Welt mit seiner Begierde und Ungeduld in Unruhe zu versetzen.
als auch freundliche, in sich gelungene lyrische Übersetzungen, offen und sprachkritisch tastend, hier natürlich im Zusammenhang mit Descartes' cogito-Refrain, (der für Jullien die Gründungsurkunde einer zumindest westlich bedingten Differenz durch die Subjekt-Objekt Denkverortung bedeutet.)
Unparteiisch und nicht Parteigänger, / vermögend und ohne etwas Besonderes,/ auf entscheidende Weise ohne [etwas] Anleitendes/ streben zu den Dingen ohne Zwiespalt,/ nicht daran festhalten zu grübeln, / sich nicht bemühen zu erkennen,/ von den Dingen nichts auswählen,/ stets mit ihnen gehen...
oder
Vermischt-undeutlich: zwischen,/ verändern (Veränderung),von daher gibt es Atem-Energie/ Atem-Energie verändern (sich), von daher gibt es sich-aktualisierende-Form,/ sich-aktualisierende-Form, von daher gibt es Leben,/ heute, neuerliche Veränderung, von daher münden im Sterben.
Interessanterweise scheint auch auch das französische Original nicht so leicht zu übersetzen zu sein, denn auf jeder Seite zieren jede Menge Originalvokabeln in eckigen Klammern die Quellwörter und ihre übersetzerischen Entscheidungen. Ein schönes Manifest der Transferpolitik allerorten. Dass die Geschichte beider Denken, West wie Ost, vielleicht auch eine Geschichte des Hungers ist, steht zwischen den Zeilen. Ein interessanter Beitrag ist dieses Vom Sein zum Leben, in all seinen Widersprüchen.
Fixpoetry 2018
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben