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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Barometer aus Macao

Hamburg

Eines der heftigsten Bücher der letzten 50 Jahre ist Georges Perecs opus magnum Das Leben Gebrauchsanweisung. Wohl kaum gibt es etwas annähernd Vergleichbares, denn nicht nur ist der 800 Seiten Plus Wälzer ein ohne jede Vorkenntnis von Oulipo & Co beeindruckend vergnüglich lesbares Storysammelsurium, das wie ein Experiment im Zoomen daherkommt und äußerst unterhaltsam hunderte Personen und ihre Vitae oder Ausschnitte ihres Alltags verwebt, sondern es ist, und das ist das Verdienst der Neuausgabe bei Diaphanes, mit den angehängten "Bauplänen", Zugängen und arbiträren Kompositionspattern im Handapparat nahezu unglaublich, dass es überhaupt lesbar im Sinne von Fiktion ist. Denn das manische Mathegenie Perec überlässt nichts, aber auch gar nichts dem Zufall, und knobelt seine Sätze, seine Personen und deren Ausstattung von Hut bis Reiseziel, Daten und Zeitungen mithilfe von Schachplänen, abstrakten mindgames, Scherzen und Gesetzen der Antiwiederholung aus. Eine sagenhafte Leistung, dass dies eben ausgeblendet werden kann und die Romane untertitelten Episoden, ein Querschnitt eines Pariser Mietshauslebens, scheinbar unabhängig davon funktionieren und man Empathien für die "Protagonisten" und ihre Verstrickungen aufbauen kann.

Natürlich verdrehen sich die Stricke, brechen ab, tauchen irgendwo wieder auf oder auch nicht, werden ersetzt – alles ist möglich, und wird demonstriert. Deutlich wird vor allem auch, dass hier tatsächlich so etwas wie "Das Leben" Pate spielen soll. Was auch immer das ist, es hat mit scheinbaren Zufällen, Schicksalen und Missgeschicken zu tun. Da verliert sich etwas im Treppenhaus, ein Zeitungsfetzen. Einfach. Doch was dort steht, ist vielleicht genau etwas, das sich formidabel in Beziehung setzten lässt zu etwas anderem, lebenden im Haus und zusammen bilden sie etwas. Tragisch, saukomisch oder eine Liste.

Perecs Prosa ist hier auf einem Höhepunkt angekommen. Der viel zu jung Verstorbene hat über zehn Jahre an diesen Romanen gearbeitet, die vielen anderen Schreibexperimente gekonnt einfließen lassen und so ist es nicht einfach getan mit einem Auserzählen der oben genannten Konzepte. Viele Kapitel sind wüst unterbrochen von liebevollen Etiketten, der punktgenauen Beschreibung eines Werkzeugschubladenschranks zum Beispiel, Rätselspielen, Artikeln, gefälschten Lexikoneinträgen und einer schier unendlichen Vielzahl an Sprachspielen, skurrilen Ortsnamen, Fachssprachenepik oder Stammbäumen.

Übersetzer Eugen Helmlé, Perecs Stammübertrager, hat dieses Monster von Buch schon Anfang der Achtziger, damals für Zweitausendeins besorgt. Für viele Neuauflagen, u.a. bei Rowohlt und auch das wird nach dem Nachwort klar, hat sich der Text in seinen Detaildetails immer wieder verändert. Denn klar, nicht nur dass bei einem derart spielerischen Fragilen, alles auch neue Zusammenhänge bilden kann, also ein "Fehler" kein sichtbarer Fehler ist primär und Perec selbst natürlich absichtlich Fehler eingebaut hat, die dann wiederum prüfbar nach Schlüssel x-y ein Zitat, eine Parodie oder eine Nullsumme ergeben. Sehr schwierig. Umso großartiger, dass in der engagierten Diaphanes Reihe an Neuveröffentlichungen, dieses grandiose kosmos-ko-konfigurierende Buch-Mantra von Georges Perec neu erschienen ist. Unbedingt einmal schnuppern, was prä-Internet möglich war. Ein Gipfel.

Georges Perec
Das Leben Gebrauchsanweisung
Übersetzung:
Eugen Helmlé
Diaphanes
2017 · 848 Seiten · 25,00 Euro
ISBN:
978-3035800449

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