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Kritik

Selbstbestimmung und Menschenwürde

Hamburg

James Baldwin wurde 1924 in New York geboren und starb 1987 in Südfrankreich. Er zählt zu den bedeutendsten US-Literaten des 20. Jahrhunderts. Vielfach ausgezeichnet als Schriftsteller, der Romane, Erzählungen, Theaterstücke, Gedichte und Essays verfasste, stellte er in seinen Arbeiten u.a. die Themen Rassismus und Homosexualität in den Mittelpunkt und setzte sich für die Gleichberechtigung aller Menschen ein, ungeachtet ihrer Hautfarbe, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres Herkunftsmilieus. Baldwins Werk geriet nach seinem Tod ein wenig in Vergessenheit und wird gerade wiederentdeckt. Nun liegt auch sein Essayband „Nach der Flut das Feuer“ in der Neuübersetzung von Miriam Mandelkow vor.

  James Baldwin (1969) Foto by Allen Warren, Quelle: Wikipedia

Das Buch enthält zwei Essays, die 1962 zunächst in amerikanischen Zeitungen erschienen und 1963 unter dem Titel „The Fire Next Time“ publiziert wurden. Ausgehend von persönlich Erlebtem zieht sich ein Grundthema durch beide Texte: die rassistische Struktur der US-amerikanischen Gesellschaft und ihr Einfluss auf Lebenschancen. Denn die strukturelle Ungleichbehandlung von Schwarzen und Weißen in jenem „reichsten, freiesten Land der Welt in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts“, Stereotype und Zuschreibungen schränkten und schränken den Spielraum für Individualität und Freiheit ein.

Im ersten Essay „Mein Körper bebte“ wendet sich Baldwin in Form eines Briefs an seinen gleichnamigen, 15-jährigen Neffen. Anlass dieses wenige Seiten kurzen Texts war der hunderste Jahrestag der formellen Sklavenbefreiung durch die Emanzipationsproklamation von Abraham Lincoln im Jahr 1863. Baldwin erzählt dem Jugendlichen einen Teil der Familiengeschichte, die von den Großeltern zu den Enkeln und zugleich weit darüber hinausreicht, denn sie ist exemplarisch für die Schicksale schwarzer Menschen in Amerika nicht nur des 20. Jahrhunderts, sondern bis in unsere Tage. Es ist die Geschichte einer Welt, in der der Wert eines Menschen und seine Zukunftsaussichten von Hautfarbe und Herkunft bestimmt werden, eine Welt, in der die Mehrheitsgesellschaft der Weißen sich eine Vormachtstellung zumisst. Baldwin weiß um die Wirkung von Rassismus auf die eigene Wahrnehmung und appelliert an seinen Neffen, sich nicht von Weißen, die von ihrer „wesenhaften Überlegenheit“ überzeugt seien, zu einem Nigger machen zu lassen. Er dürfe sich nicht abfinden mit dem, was ihm der Weiße Mann zugedacht hat, sondern müsse lernen, der eigenen Erfahrung zu vertrauen. Baldwin hinterfragt die Wörter „Akzeptanz und Integration“ und kehrt deren Bedeutung dialektisch um:

Du hast keine Veranlassung, so zu werden wie die Weißen, und es gibt nicht die geringste Grundlage für ihre unverfrorene Annahme, sie müssten Dich akzeptieren. Die schreckliche Wahrheit ist, mein Junge: Du musst sie akzeptieren ... und zwar mit Liebe. Eine andere Hoffnung gibt es nicht für diese unschuldigen Menschen.

Das Wort „unschuldig“ jedoch exkulpiert nichts und niemanden, denn, so sein Resümee, gerade „in der Unschuld liegt das Verbrechen.“ Baldwin glaubt zudem an die Macht der Liebe als stützende und ermächtigende Kraft am Beispiel seiner Familie, denn

hätten wir einander nicht geliebt, hätte keiner von uns überlebt.

Der zweite Essay „Vor dem Kreuz“ trägt den Untertitel „Brief aus einer Landschaft meines Geistes“ und gibt Zeugnis von jenen wesentlichen Weichenstellungen in Baldwins Entwicklung, die ihn Schriftsteller werden und beharrlich gegen Rassismus argumentieren ließen. Geboren in Harlem und mit zehn Jahren erstmals von Willkür weißer Polizisten betroffen, erlebt er den „Sommer, in dem ich vierzehn wurde“, als Zäsur. In einem Klima „der ständigen, grundlosen Demütigung und Gefahr“ beginnt er zu zweifeln, dass Wohlstand für Schwarze durch Befolgung christlicher Tugenden gewonnen werden können. Der Weg in eine kriminelle Laufbahn erscheint ihm in einem „angloteutonischen, sexfeindlichen Land“ auf einmal als „die Möglichkeit“, den Verhältnissen zu entkommen. Denn ihm entsprechen keineswegs jene Fähigkeiten, die Schwarzen gemeinhin von Weißen zugesprochen werden: Weder eignet er sich zum Profiboxer, noch kann er singen oder tanzen.

Ich war so gut konditioniert durch die Welt, in der ich aufgewachsen war, dass ich den Gedanken, Schriftsteller zu werden, noch nicht ernsthaft in Erwägung zu ziehen wagte.

Erfüllt von überwältigender Angst wendet er sich der Kirche zu, erzählt von der Droge Religion, von Demagogie und der Faszination, die Musik und das Pathos der Messfeiern in ihm auslösten. Baldwin wird drei Jahre lang Jugendprediger. Sein Glaube beginnt zu bröckeln, als er an der Highschool „wieder anfing zu lesen“ und erkennt, dass es Weiße waren, die einst die Bibel schrieben. Baldwin reflektiert die historische Rolle des Christentums und der christlichen Kirchen bezüglich Macht und Moral. Wer wirklich versuchen möchte, ein moralisches Wesen zu sein, müsse sich, so Baldwin, zunächst von allen Verboten, Verbrechen und Heucheleien der christlichen Kirche lossagen. Diese Ansicht wird Jahre später bestärkt, als er sich mit der Bewegung der Black Muslims, den Predigten von Elijah Muhammad und mit Malcolm X auseinandersetzt. Für ihn ist es nur ein alter Traum in neuer Färbung, in dem es wieder nur um Vormachtstellungen geht. Baldwin weiß um seine Herkunft:

Ich bin also nach Namen und Gesetz der Nachfahre von Sklaven in einem protestantischen weißen Land, und genau das ist ein „American Negro“, genau das – ein entführter Heide, verkauft wie ein Tier, behandelt wie ein Tier und von der amerikanischen Verfassung einst als Dreifünftel-Mensch eingestuft, ... das Wesen in diesem Land, das am tiefsten verachtet wird.

Um die Situation der Schwarzen in den USA zu verändern, brauche es radikale und weitreichende Veränderungen in der politischen und gesellschaftlichen Struktur Amerikas, vor allem aber eine Veränderung in den Menschen selbst. Baldwins Credo ist nicht Hass und Vergeltung, sondern der Traum von der Freiheit und Gleichheit aller Menschen und damit die Überwindung von Hautfarbe, Nation und Altar. Jeder müsse als freier Mensch die Verantwortung für sich selbst und das eigene Leben übernehmen können. Dies sei als Chance für alle zu begreifen, nicht als Bedrohung oder Schmach. Nie ginge es darum, dass Schwarze schnell weiße Normen übernehmen, sondern um neue Wertmaßstäbe, um den „rassistischen Albtraum zu beenden“. Liest man Baldwins kluge Essays und setzt sie in Bezug zu heutigen Machtpositionen, so wird einmal mehr deutlich, wie ungebrochen aktuell sie sind und dass es nicht nur im Trump-Land noch ein weiter Weg ist, bis Gleichheit und Menschenwürde für alle verwirklicht sein werden, mehr noch: Man beginnt auf einmal zu zweifeln, ob es gelingen wird, Baldwins Traum bis zur 200-Jahr-Feier der Sklavenbefreiung im Jahr 2063 Realität werden zu lassen.

James Baldwin
Nach der Flut das Feuer
Mit einem Vorwort von Jana Pareigis, ZDF. Aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow
dtv
2019 · 128 Seiten · 18,00 Euro
ISBN:
978-3423281812

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